Die „Bevölkerungsversammlung“ im Sommerbau des Mousonturms zelebriert den Wahlsonntag als Festtag der Demokratie. Am Rednerpult: Die Künstlerin Ayla Pierrot Arendt als frisch gewählte Bundeskanzlerin.

„Mich interessiert nicht die Probe“, sagt die Künstlerin Ayla Pierrot Arendt. „Mir geht es nicht darum, etwas Fertiges zu produzieren, um es dann dem Publikum zu zeigen. Mich interessiert, was in dem Moment passiert, wenn ich auf der Bühne stehe.“ Konsequenterweise hat Arendt ihre „Rede der Bundeskanzlerin“ auch vier Tage vor dem Wahlsonntag noch nicht publikumswirksam einstudiert – wohl aber akribisch am Text gefeilt. Im dritten Stock der Ateliergemeinschaft Basis sitzt sie vor ihrem aufgeklappten Laptop.

„Die Vielstimmigkeit hat gesiegt“ lautet einer der zentralen Sätze, den sie aus ihrem Manuskript vorliest. „Unsere Gesellschaft ist bunt und vielfältig. Es gibt viele Menschen, die sich politisch engagieren. Mein Eindruck ist aber, dass sie von der etablierten Politik zu wenig beachtet werden. Für mich ist das Wirklichkeitsverweigerung.“ Junge Aktivist*innen – etwa von Fridays for Future oder der Black Lives Matter-Bewegung – imponieren ihr. Trotz Kritik an den bestehenden Verhältnissen liegt ihr pauschales Politiker-Bashing fern, betont Arendt. Ebenso wenig möchte sie einer bestimmten Partei das Wort reden.

Pauschales Politiker-Bashing liegt ihr fern

Bei der vierten Ausgabe der „Bevölkerungsversammlung“, einer Veranstaltungsreihe des Mousonturms, wird Arendt in einem schwarz-rot-goldenen Kostüm („ein Outfit an der Schwelle zwischen Glamour und Trash“) als Bundeskanzlerin hinter dem Rednerpult stehen. „Mein Grundanliegen ist es, Menschen Mut zu machen, ihre Stimme zu erheben und Teilhabe einzufordern“, erklärt sie. Ihre Performance ist Teil eines mehrstündigen Programms, dessen Motto „Demokratische Freuden – Zur Bundestagswahl ein Abschied und Neuanfang“ lautet. 

Ayla Pierrot Arendt, Bundeskanzlerin, 2021, Foto: Robert Schittko

Kurator und Moderator ist der Frankfurter Philosoph Leon Joskowitz. Im Mittelpunkt des Nachmittags stehen die vergangenen 19 Bundestageswahlen, die von den anwesenden Künstler*innen und Wissenschaftler*innen (darunter Antigone Akgün, Nikita Dhawan, Anne Halfpap, Luise Meier, Arthur Romanowski, Sitha Reis, Bernadette Schäfer, Judith Altmeyer und Susanne Zaun) kommentiert werden. Los geht es um 16 Uhr. Gegen 19 Uhr, nach den ersten Hochrechnungen, wird Arendt mit Siegermiene ans Rednerpult schreiten.

Die Veranstaltung ist wie geschaffen für den Sommerbau, dessen Architektur entfernt an ein Amphitheater erinnert. In der Antike waren Freilichttheater nicht nur Spielstätten, sondern auch Orte, an denen Volksversammlungen stattfanden. Auf diese Tradition berufen sich die „Bevölkerungsversammlungen“. Die vierte und letzte Ausgabe am Sonntag ist ein Mix aus politischer Bildung, Kunst und Party. Letzteres nicht nur, weil die feministische DJ-Crew GG Vybe auflegt und am Abend Freibier ausgeschenkt wird, sondern auch, weil der Veranstalter den Wahlsonntag als einen Festtag für die Demokratie begreift. Weshalb man von seinem Wahlrecht auch unbedingt Gebrauch machen sollte.

Leon Joskowitz bei der Bevölkerungsversammlung, Sommerbau, 2021, Foto: Christian Schuller
Bevölkerungsversammlung, Sommerbau, 2021, Foto: Anton Sahler

Als Performerin schlüpfte Arendt schon in einige Rollen. Als Kunstfigur Layla Vesuv hielt sie Reden auf verschiedenen Balkonen der Stadt – begleitet von einem Schlagzeuger. „Wir haben ordentlich Lärm gemacht“, erinnert sie sich. Während des Lockdowns veranstaltete sie als Justitia Stadtführungen auf dem Römerberg – virtuell über Instagram. „Ich wollte auf die Rolle des öffentlichen Raumes aufmerksam machen. Die Nationalsozialisten haben sich hier versammelt und Bücher verbrannt. Aber auch Frauenrechtlerinnen haben sich auf dem Römer getroffen. Das sind Momente, in denen es einen Unterschied macht, ob man dabei gewesen ist oder nicht und auf welcher Seite man stand.“ 

Öffentliche Plätze, dazu gehören auch Theater, sind für Arendt „geteilte Vorstellungsräume“, wie sie es nennt. „Mir geht es um die Idee von Realität, die durch das Phantastische mitgestaltet wird – durch die Vorstellungswelten, die von allen Anwesenden geteilt werden“, erzählt sie. „Wenn ich in meiner Rolle als Bundeskanzlerin eine Rede halte, dann bin ich – zumindest einen Moment lang – tatsächlich die Bundeskanzlerin. Das ist eine Utopie, ein Akt der Selbstermächtigung.“

Mir geht es um die Idee von Reali­tät, die durch das Phan­tas­ti­sche mitge­stal­tet wird [...]

Ayla Pierrot Arendt
Ayla Pierrot Arendt, Layla Vesuv, 2020, Courtesy the artist

Ursprünglich kommt Arendt von der Malerei. Später hat sie in Gießen Choreographie und Performance studiert. „Der Studiengang dort war sehr philosophisch ausgerichtet“, erzählt sie. „Was ich dort gelernt habe, war vor allem, mit Anderen gemeinsam zu denken.“ Viele ihrer Arbeiten wurden im Mousonturm uraufgeführt. Ob es sie reizen würde, auch abseits der Bühne den Job der Regierungschefin zu übernehmen. Nach einer kurzen Denkpause antwortet Arendt entschieden: „Nein! Mir geht es um die Möglichkeit, alles zu sein, was ich will. Genau deshalb mache ich Kunst.“

Ayla Pierrot Arendt, Justitia, 2020, Foto: Jiyoon Chung

Demokratische Freuden – Zur Bundestagswahl ein Abschied und Neuanfang

Offenbach, Sommerbau am Kaiserlei, So, 26.9., ab 16 Uhr, Eintritt frei

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