Die klaren Formen der Frankfurter Skyline wirken sonst eher kühl. Das muss aber nicht so sein: Der Künst­ler Bastian Muhr hat die Schei­ben eines Hochhauses zu neuem Leben erweckt.

Wer in den vergangenen Tagen die Frankfurter Gallusanlage zwischen Willy-Brandt-Platz und Taunustor entlangspaziert ist, hat womöglich eine Veränderung in den Fenstern des Taunusturms wahrgenommen. Das Hochhaus an der Ecke Taunustor und Neue Mainzer Straße wirkt mit seiner Architektur aus Glas und hellem Stein in klaren Formen sonst eher kühl. Nun allerdings regt sich etwas auf den riesigen Fensterscheiben. In wochenlanger Arbeit hat der Leipziger Künstler Bastian Muhr die Scheiben der dem Park zugewandten Lobby mit einer feinen Zeichnung gefüllt.

Die weißen Striche auf dem Glas ergeben ein Gewirr aus Linien und Zacken, das keiner Logik zu folgen scheint, aber doch einem engen Schema entspricht. Auf einer Fläche von insgesamt ca. 140 m2 zieht sich die Zeichnung über die acht monumentalen Fenster des Eingangsbereiches. Jeder Strich ist von Hand gemacht, das sieht man an den Schwüngen und Krümmungen der Linien, auch die Intensität der Farbe changiert an verschiedenen Stellen. Die Muster überlagern sich – bei genauem Hinsehen erkennt man, dass die Scheiben sowohl von innen als auch von außen bezeichnet sind. Der Blick ins Innere das Gebäudes wird so zwar nicht vollständig versperrt, die sonstige Durchlässigkeit der Glasscheibe dennoch gestört. Eine Irritation, durch die man den Bau und dazugehörigen Vorplatz plötzlich anders wahrnimmt.

Beim Betre­ten der Lobby fühlt man sich unweigerlich klein

Zum ersten Mal kommen einem Gedanken über die Funktion des Empfangsbereiches, der eine Deckenhöhe von 13 Metern hat und dessen einzige Möblierung ein steinerner Empfangstresen ist. Beim Betreten der Lobby muss man sich unweigerlich klein und unbedeutend vorkommen – auch dadurch entsteht wohl die Assoziation eines Sakralraumes, welche die Kunst auf dem Fenster mit sich bringt. In Kirchen und anderen Repräsentationsräumen hat Glaskunst eine lange Tradition, so hat auch Muhr bereits einen Auftrag zur Gestaltung von Kirchenfenstern in Altjeßnitz (Sachsen-Anhalt) ausgeführt. 

Foto: günzel.rademacher, Frankfurt
Foto: günzel.rademacher, Frankfurt
Zeitrafferaufnahme: Bastian Muhr

Gebrochen wird dieser besinnliche Effekt dadurch, dass Muhr zur Fertigung der Zeichnung auf den Scheiben des Taunusturms einen handelsüblichen, profanen Marker verwendete, wie man ihn eher aus der Graffitiszene kennt. Die Anbringung der Zeichnung an einem öffentlichen Ort wie diesem Bürogebäude in der Frankfurter Innenstadt rückt das Werk so in den Bereich der Street Art.

Das Kunstwerk ist einer breiten Masse zugänglich und die Offenheit der Form lässt vielfältige Assoziationen zu. Vor allem lenkt der Künstler die Aufmerksamkeit der Betrachterinnen und Betrachter auf die Eigenschaften von Raum und Form sowie Licht und Schatten: je nach Lichteinfall bildet sich die Zeichnung auch auf dem umliegenden Ort ab und nimmt ihn gleichsam ein. Das organisch gewachsene Motiv legt sich wie ein Ornament auf Wände und Boden. Jeder Strich ist individuell und zeigt die Handschrift des Künstlers.

Foto: günzel.rademacher, Frankfurt

Die Installation am Taunusturm entstammt Muhrs eigener Initiative. In den vergangenen Jahren hat er im Kontext institutioneller Ausstellungen schon einige Male große, ortsspezifische Arbeiten ausgeführt, welche die Betrachter*innen dazu aufforderten, sich über den sie umgebenden Raum Gedanken zu machen. Bei Bodenarbeiten mit Kreidezeichnungen im Museum Wiesbaden, dem MdbK Leipzig und der Kunsthalle Göppingen wurden die Ausstellungsbesucher*innen an den Rand gedrängt, denn ein Betreten der Zeichnungen war strengstens verboten. Das Material wird durch Reibung verwischt und wurde nach einer Weile gezielt wieder abgetragen. Letztlich eine Installation auf Zeit. Auch die Zeichnung am Taunusturm ist hier nur temporär. Zum Jahresende wird sie entfernt.

Mit seinen Arbeiten macht Muhr auf die Umgebung aufmerksam

An dem Gebäude in der Gallusanlage faszinierten Muhr insbesondere die großen Glasflächen. So große Fensterscheiben, deren glatte Flächen von nichts durchbrochen werden, hatte er noch nie gesehen. Nach seiner Ansicht fungieren sie wie eine durchsichtige Wand, welche die Lobby und den Außenraum verbindet, und sind ein wichtiger formaler Teil des Ortes. Tatsächlich sind die Fenster sogar Sonderanfertigungen, weil zur Zeit der Errichtung des Baus (2012) Scheiben dieser Größe nirgends hergestellt wurden. Aufgrund der großen Oberflächenspannung sind beim Einbau dann auch noch ein oder zwei zerbrochen, so die Erzählung.

Foto: günzel.rademacher, Frankfurt
Video: Hagen Betzwieser

Die Durchlässigkeit und gleichzeitige Härte des Materials und die Tatsache, dass sie keine Vorder- oder Rückseite haben, machen die Fenster zu einem ganz besonderen Malgrund. Die Zeichnung auf dem Glas nimmt die gesamte unmittelbare Umgebung in sich auf. Tageszeiten und Wettersituationen verändern die Wahrnehmung, und das Drumherum mischt sich in der Betrachtung immer ins Bild. So fällt der Blick beim Hineinsehen durch das Glas auf ein Kunstwerk in verschiedenen Rotschattierungen an der Rückwand der Lobby. Es handelt sich hierbei um eine Arbeit von Theaster Gates, der vielen wohl durch seine Beteiligung an der documenta 13 bekannt ist, wo er in der Kasseler Innenstadt ein abbruchreifes Haus zum Gesamtkunstwerk mit der Funktion eines Kulturzentrums umwandelte. „Mama Red“ im Taunusturm besteht aus Streifen alter Feuerwehschläuche und wird von Gates selbst als urbaner Bildteppich bezeichnet.

Eine geballte Ladung Kunst trifft hier aufeinander

Der Blick nach Außen durch die Zeichnung auf den Fenstern fällt auf den Park und die umliegenden Hochhäuser. Links kommt ein weiteres Kunstwerk ins Bild: „Ohne Titel“ von Franz West aus dem Jahr 2012 hat hier längst eine Doppelfunktion als Sitzgelegenheit und Kunstobjekt erlangt. Mit der Eröffnung ihrer Dependance MMK Tower (damals MMK2) 2014 ließ das Museum für Moderne Kunst Frankfurt diese Leihgabe der Franz West Privatstiftung, Wien an dem jetzigen Standort aufstellen.

Foto: günzel.rademacher, Frankfurt
Foto: günzel.rademacher, Frankfurt

Mit der Zeichnung von Muhr gehen die Werke von Gates und West nun ein Wechselspiel ein und bilden eine eigene, wie zufällig zusammengestellte Ausstellung am Taunustor. So begegnet einem an diesem Ort eine geballte Ladung Kunst, die den öffentlichen Raum auf unterschiedliche Weise bespielt. Aufgrund der aktuellen Situation konnte es leider keine offizielle Eröffnung geben. Das monu­men­tale und doch subtile Kunst­werk von Bastian Muhr ist nun aber ganz ohne Besu­cher­be­gren­zun­gen oder Mund­schutz­pflicht zu jeder Tages- und Nacht­zeit sowohl von außen als auch aus dem Innenraum zu bewun­dern. Bis Ende des Jahres sollte jede und jeder mal einen Schlenker durch die Gallusanlage gemacht haben und mit offenen Augen die Kunst vor Ort wahrnehmen.

Foto: günzel.rademacher, Frankfurt