Spekulative Performances und psycho­geo­gra­fi­sche Parcours. Das Festival IMPLAN­TIE­REN2020 überdenkt unse­ren Zugang zum Stadt­raum und entwirft neue Formen des Zusam­men­le­bens.

Was hat die Frankfurter Neue Altstadt mit mittelalterlichem Minnesang, sibirischem Permafrostboden und dem VR-Park aus der Serie „Westworld“ gemeinsam? Das erfährt man auf einem der virtuellen „Spaziergänge“, die die Gruppe ScriptedReality mit ihrem Publikum unternimmt: In einem psychogeografischen Parcours erkunden sie die historischen und politischen Schichten bestimmter Orte. 

Dabei lassen sie sich von ihrer Assoziationskraft leiten, die Verbindungen zwischen den unterschiedlichsten Elementen knüpft. Lässt sich zum Beispiel die Entstehung der Neuen Altstadt mit dem Schmelzen von Eis vergleichen, das freigibt, was es einmal ­­– mehr schlecht als recht – konserviert hat? Steht uns im Zuge einer neuen Tauzeit die Auferstehung ganzer Städte aus Ruinen bevor?

Das Festival macht auf die freie Szene im Frankfurter Raum aufmerksam

Solche spekulativen, kreativen Zugänge zum öffentlichen Raum vereint das Festival IMPLANTIEREN2020: Vom 20. August bis 6. September 2020 präsentiert es in Frankfurt, Offenbach und Darmstadt ein ausgewähltes Programm aus dem Performance-, Tanz-, und Theaterbereich zusammen mit zahlreichen Diskussionsangeboten. Getragen durch den Verein ID_Frankfurt e.V., macht das Festival bereits seit 2013 alle zwei Jahre auf die Vielfalt und Dichte der freien Szene im Frankfurter Raum aufmerksam. Indem es deren Akteur*innen von der Bühne und in den urbanen Raum holt, weist es auch auf mangelnde Freiräume für diese hin. IMPLANTIEREN ist in diesem Sinne auch zu einer Plattform herangewachsen, auf der alternative Formen der Stadtentwicklung und der Teilhabe am öffentlichen Raum diskutiert werden.

ScriptedReality, Die Stadt mit der Zunge begehen, 2020 © ScriptedReality
IMPLANTIEREN2020 Team (c) Christian Schuller

Viele der künstlerischen Arbeiten des Festivals finden konsequenterweise auch im Stadtraum statt und bieten die Möglichkeit, sich diesem neu zu nähern – zum Beispiel auf Stadtspaziergängen, bei denen die Schönheit im Hässlichen entdeckt oder Ausschau nach einem Blauwal gehalten wird. Neben der Kraft der Imagination spielt auch Erinnerung eine wichtige Rolle für viele Formate: So spekuliert das Kollektiv PARA über die Zukunft der globalen Finanzmärkte, indem es das Taunusviertel – Herz der Bankenstadt Frankfurt – als zukünftige Ruinenstätte betrachtet.

Neben der Kraft der Imagination spielt auch Erinnerung eine wichtige Rolle

Die Künstlerin Ülkü Süngün hält ihrerseits die Erinnerung an die Mordopfer des NSU wach: In ihrer Performance „Takdir. Die Anerkennung“ setzt sich Süngün auf dem Vorplatz des Historischen Museums Freiwilligen gegenüber, denen sie die korrekte Aussprache der Namen der zehn Ermordeten beibringt. Dabei ist auch die Gruppe der Zuschauenden zum Mitsprechen angehalten. Für einen kurzen Moment schafft es der Chor, den Lärm des Römers zu übertönen und die Namen zu einem akustischen Mahnmal zu verdichten.

SPECULATIVE RUINS RUINS OF SPECULATION von PARA (c) Jonas Fischer & Philipp Meuser
Ülkü Süngün, Takdir. Eine Anerkennung (c) Nadine Bracht

Implantieren, das suggeriert nicht nur das Einpflanzen, sondern auch das Verwachsen mit dem Gegebenen. Dementsprechend legt das Festival besonderen Wert auf die Nachhaltigkeit seiner Aktionen: Es vernetzt in konkreten Formaten Akteur*innen der freien Szene miteinander, ermöglicht kurze Arbeitsaufenthalte für diese und erarbeitet eine Katalogisierung von Orten, die Kooperationsmöglichkeiten bieten. Und auch die Auswahl der Festivalzentralen ist durchaus programmatisch zu verstehen: So organisiert IMPLANTIEREN seine dritte Programmwoche vom Offenbacher Hauptbahnhof aus, wo es mit der Initiative HBF OF kooperiert. Diese engagiert sich seit 2017 für ein geeignetes Nutzungskonzept für den Ort, der, seitdem die Deutsche Bahn dort den Verkehr größtenteils eingestellt hat, im Verfall begriffen ist.

Gemeinschaftlich Handeln und Wirken

Engagement für eine gemeinwohlorientierte Nutzung des öffentlichen Raums – das ist für IMPLANTIEREN zentral. Dabei hat sich das diesjährige kuratorische Team von der Idee der „Commons“ leiten lassen. Gemeint sind mit dem Begriff gemeinschaftlich genutzte Ressourcen, die durch eine soziale Gruppe selbstständig verwaltet werden – auch „Commoning“ genannt. Das Konzept mag neumodisch klingen, sein Inhalt ist es keineswegs: Schon die von einer Gemeinde geteilte Alm zum Grasen der Kühe war eine Form des Commonings. Heute ist den meisten wohl eher Wikimedia Commons geläufig, als Sammlung von Bildern, die nach den selbstverfassten Bedingungen der Wikipedia-Gemeinschaft hochgeladen und frei genutzt werden können.

moved. BEWEGT. deplacé (K)ein Spaziergang in Schwarzweiß von Hannah Schassner & Mirrianne Mahn (c) Christian Schuller

Die Idee des „Commonings“ auf den öffentlichen Raum zu übertragen, heißt die Frage zu stellen, wie Selbstorganisation und Eigenverantwortung zu einer nachhaltigen Gestaltung dieser Sphäre beitragen können. Auf Mikroebene leben Urban Gardening oder unabhängige Wohnprojekte das schon vor. In Frankfurt bestand die Gelegenheit für eine Stadtgestaltung „von unten“ mit dem testweise gesperrten Mainkai, für dessen gemeinschaftliche Nutzung und Gestaltung sich die Bürgerinitiative „Mainkai für alle“ einsetzt. IMPLANTIEREN2020 bietet nun mit seinem künstlerischen und diskursiven Programm eine temporäre Gelegenheit, unseren Zugang zum Stadtraum und Formen des Zusammenlebens zu überdenken.

Botanical Powwow – Micromuseum for the Future von 431art – Haike Rausch & Torsten Grosch © botanoadopt

IMPLAN­TIE­REN2020

20. August – 6. Septem­ber 2020

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