Meine Identität ist nicht verhandelbar. So wirbt der diesjährige Christopher Street Day in Frankfurt für Gleichberechtigung. Aus gegebenem Anlass stellt das SCHIRN MAG Highlights des Queer Cinema vor.

Gleichberechtigung ist ein zwar stetiger, dennoch langsam voran schreitender Prozess, der nach wie vor vielerorts aufgehalten wird. Das Kino als kritisches Medium reagiert darauf schon länger. Anfang der 1990er Jahre trat unter anderem Gus van Sants „My Private Idaho“ das New Queer Cinema los, eine Strömung amerikanischer Independent-Filme. Mittlerweile, allerspätestens seit „Love, Simon“, einer Highschoolkomödie mit schwulem Helden, ist zumindest die männliche Homosexualität endgültig im westlichen Mainstreamfilm angekommen. In der Netflix-Serie „Godless“ etwa erobern Frauen, darunter auch lesbische, den männlich dominierten Wilden Westen ein Stück weit für sich. Und Hannah Gadsby ist mit dem Netflix-Special „Nanette“ gerade in aller Munde, in der sie, ausgehend von ihrem Coming-out, mit dem Comedy Format abrechnet.  

Wie divers und berührend der queere Film sein kann, zeigen die folgenden Empfehlungen. Vertreten sind Werke aus so verschiedenen Ländern wie Deutschland, Südafrika, Frankreich oder Argentinien, in denen mal mehr, mal weniger auch die eigenen kulturellen Kontexte verhandelt werden. Filme, die sich auf eine Liebesgeschichte konzentrieren, andere, die wiederum gesellschaftliche Hürden und Intoleranz diskutieren. Alle acht Filme stammen aus den letzten Jahren und natürlich kann diese Liste nur unvollständig sein, so wie auch der Einsatz für Gleichberechtigung sich immer weiter entwickelt.

1. Die Wunde

Regisseur John Trengove erzählt vor dem Hintergrund des Ukwaluka, eines traditionellen Beschneidungs- und Initiationsritus der Xhosa in Südafrika, von einer Liebe zwischen zwei Stammesangehörigen. Mit bedrohlicher Ruhe folgt die Kamera dem jungen Xolani, der in ein Camp in die Berge reist, um dort als Mentor das Ukwaluka des Städters Kwanda zu unterstützen. Nach der Beschneidung verbringen die Männer mehrere Tage in Strohhütten, wo die Mentoren die Wunden ihrer Schützlinge pflegen. Während der wütende und homosexuelle Kwanda sein vom Vater erzwungenes Coming-of-Age hinnimmt, trifft sich Xolani heimlich mit seinem Kumpel Vija zu sexuellen Abenteuern.

Auf dem Berg krachen Tradition und Moderne aufeinander. „Die Wunde“ erzählt nicht von einer (sexuellen) Emanzipation, sondern ist Bestandsaufnahme komplexer gesellschaftlicher Probleme, die, wie die Wunden im Fleisch der Initiierten, nicht mit einfachen Pflastern geheilt werden können. Ein wichtiger und heikler Film, denn den Xhosa-Männern ist es strengstens verboten ist, über ihre Beschneidung zu sprechen, zudem ist Homosexualität in der südafrikanischen Gesellschaft nach wie vor ein Tabu. „Die Wunde“ ist als DVD erhältlich.

John Trengove, Die Wunde, 2017 © Pyramide Distribution
John Trengove, Die Wunde, 2017 © Pyramide Distribution

DIE WUNDE

von John Trengove

2. Beach Rats

Der halbstarke Frankie erlebt den Sommer auf Coney Island mit seinen Freunden als rauschgetränktes Vakuum. Angetrieben von Langeweile und Drogen machen die Strand­ratten den Rummelplatz unsicher, stehlen, checken im wahrsten Sinne des Wortes Frauen ab oder rauchen in der Shisha-Bar um die Wette. Zu Hause im Keller chattet Frankie heimlich mit Männern im Cam-Chat „Brooklyn Boys“. Die sexuelle Neugier, der er sich bei Treffen im Wald oder in Hotelzimmern hingibt, ist ihm ebenso ins Gesicht geschrieben wie die gesellschaftlich indoktrinierte Abneigung gegen seine Lüste.

Intimität zwischen Männern wurde selten in einer solchen Natürlichkeit gezeigt, wie in „Beach Rats“. Eliza Hittmann, die Regisseurin des Films, versteht es – und das sieht man so wirklich selten im Kino – den jugendlichen Wahnsinn mit poetischem, aber stets realistischem Blick einzufangen. Auf selbstgenügsame Ästhetisierungen und einfache Antworten verzichtet sie gänzlich. Hittmans Film ist als DVD und als Stream bei Netflix erhältlich.

Eliza Hittmann, Beach Rats, 2017 © Salzgeber & Co. Medien GmbH
Blau ist eine warme Farbe

Nach ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Mann erlebt die Jugendliche Adèle ein regelrechtes Initiationsmoment, als sie die blauhaarige Emma zum ersten Mal erblickt. Zwischen den beiden Frauen entbrennt eine leidenschaftliche Affäre, später ein Kampf um Liebe und Anerkennung. Der lose auf der gleichnamigen Graphic Novel basierende Film von Abdellatif Kechiche war das Ereignis der Filmfestspiele in Cannes 2013. Neben dem Regisseur wurden ausnahmsweise auch die beiden Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. So intensiv wie in „Blau ist eine warme Farbe“ wurde wohl nie zuvor von einer lesbischen Liebe erzählt. Ein Film voll (sexueller) Leidenschaft, Natürlichkeit und Poesie. Erhältlich bei Netflix und auf DVD.

Abdellatif Kechiche, Blau ist eine warme Farbe, 2013 © Alamode Film
4. Call Me by Your Name

Luca Guadagninos Film ist wie ein leise anschwellender Fluss der Leidenschaften: Ganz behutsam bahnt sich eine Liaison zwischen dem 17-jährigen Elio, der den Sommer im italienischen Landhaus seiner Eltern verbringt, und dem als Hausgast geladenen Amerikaner Oliver an. Die Hitze, der Müßiggang des Sommers und ein intimes Ringen: Voller Sinnlichkeit erzählt „Call Me by Your Name“ von der Sommerliebe zwischen dem pubertierenden Jungen und dem Mittzwanziger. Die Schauspieler sind durchweg fantastisch, allen voran Timothée Chalamet als Elio. Drehbuchautor James Ivory wurde für seine Adaption des gleichnamigen Romans mit einem Oscar ausgezeichnet. Höhepunkt des Films ist das Vater-Sohn-Gespräch gegen Ende. In wenigen deutschen Kinos ist diese berührende Erzählung noch immer zu sehen, zum Beispiel im Hafenkino Open Air am 11. August 2018 um 20.45 Uhr. Ansonsten ist der Film auf DVD erhältlich.

Luca Guadagnino, Call me by your Name, 2017 © Sony Pictures

CALL ME BY YOUR NAME

von Luca Guadagnino

5. Laurence Anyways

Der Literaturlehrer Laurence steckt im falschen Körper. Genau das erklärt er an seinem 35. Geburtstag nach einigem Hadern seiner Langzeitfreundin Fred und weiter, dass er sich fortan als Frau kleiden, aber mit ihr zusammenbleiben möchte, denn sie ist die Frau seines Lebens. 12 Jahre umfasst Xavier Dolans Beziehungsdrama, in denen das Paar zwischen Zuversicht und Zweifeln, zwischen Konvention und Grenzauslotung laviert und auf die Probe gestellt wird.

„Laurence Anyways“ ist erst der dritte Film des damals 24-jährigen, als Wunderkind gefeierten Regisseurs. Und er macht seinem Ruf alle Ehre: Der Film ist eine schrille, knallbunte und emotionale Tour de Force, ästhetisch nahezu perfekt durchchoreographiert. Wenige verstehen sich so gekonnt darauf, Bild und Musik zu einer derart intensiven Melange zu verschweißen. Dolans Film ist auf DVD und im Sundance Now Channel bei Amazon Prime erhältlich sowie bis 30.9.18 in der Arte Mediathek.

Xavier Dolan, Laurence Anyways, 2012 © MK2 Diffusion
6. Dicke Mädchen

Der German Mumblecore ist seit einigen Jahren die Frischzellenkur des deutschen Films. Ihre sympathischen „Low-Fi“-Filme, in denen die Schauspieler improvisieren und die, wenn überhaupt, auf nur wenige Seiten umfassenden Drehbüchern basieren, drehten Regisseure wie Nico Sommer, Tom Lass oder Axel Ranisch zunächst mit Mini-Budgets.

Ranischs „Dicke Mädchen“, so hat der Regisseur mehrfach augenzwinkernd erklärt, soll nur 517,32 Euro gekostet haben. Darin entdecken der mit seiner dementen Mutter zusammenlebende und sogar das Bett mit ihr teilende Sven und der Krankenpfleger Daniel ihre Gefühle füreinander. Heiko Pinkowski, Peter Trabner und Ranischs Oma Ruth Bickelhaupt brillieren in dieser zärtlich-skurrilen Coming-Out-Geschichte voller Situationskomik. Emotion zählt in diesem Film, weniger technische Perfektion. So frisch wurde bisher selten von einer sich anbahnenden, schwulen Liebe erzählt. „Dicke Mädchen“ ist auf DVD erhältlich.

Axel Ranisch, Dicke Mädchen, 2012 © missingFilms
7. Milk

Harvey Milk schrieb Geschichte als erster amerikanische Politiker, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. Gus van Sants Biopic widmet sich der Zeit von 1970 bis 1978. Der Bürgerrechtler setzt sich nach dem Umzug von New York nach San Francisco für die Rechte der Homosexuellen ein und beschließt, für den Stadtrat zu kandidieren. „Milk“ ist das eindrückliche Porträt eines couragierten Mannes und zugleich Porträt einer Generation, die für die Rechte und die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben eintrat. Penn wurde für sein Spiel mit einem Oscar als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Er spielt den Bürgerrechtler, der gemeinsam mit dem ehemaligen Stadtrat George Moscone 1978 im Rathaus erschossen wurde, intensiv und ohne Frage preiswürdig. Das Biopic ist mit seinem prominenten Cast um Josh Brolin, Emile Hirsch und James Franco aber insgesamt großes Schauspielerkino. Erhältlich bei Netflix und auf DVD.

Gus van Sant, Milk, 2008 © SND
8. XXY

Die 15-jährige Alex wurde mit männlichen und weiblichen Geschlechtsteilen geboren, lebte aber bisher, unterstützt von Hormonpräparaten, als Mädchen. Die Eltern sind wegen gesellschaftlicher Anfeindungen von Argentinien nach Uruguay umgezogen, sehen sich aber erneut mit Gespött konfrontiert. Während ein operativer Eingriff mit einem befreundeten Chirurgen diskutiert wird, kommen sich Alex und dessen Sohn Álvaro näher. Lucia Puenzo erzählt von den gesellschaftlichen und persönlichen Herausforderungen einer intersexuellen Veranlagung und damit von einem lange Zeit tot geschwiegenen Thema – und das in einer Region, in der Machismo nach wie vor verbreitet ist. „XXY“ ist eine Geschichte über Selbstbestimmung und Konvention, ein empathisches und gefühlvolles Statement für die Enttabuisierung eines immer noch geltenden Tabus. Erhältlich auf DVD und im Sundance Now Channel bei Amazon Prime.

Lucía Puenzo, XXY, 2007 © Pyramide Distribution