Henri Matisse setzt seinem Werk am Ende seines Lebens noch einmal die Krone auf. Die Werke der letzten Schaffensphase gehören zu den einflussreichsten des Künstlers überhaupt. Sie vervollkommnen, was er einst begonnen hatte.

Als er 1941 die Diagnose Krebs erfährt, glaubt Matisse sich am Ende seines Lebens. Bevor er sich einer risikoreichen Operation unterzieht, schreibt er Briefe und nimmt Abschied. Er blickt dem Tod ins Gesicht. Die 13 Jahre nach diesem Eingriff sind – trotz schwerer Zeichnung durch die Krankheit – wie geschenkte Zeit. Er nannte es „une seconde vie“ und verschrieb es seiner Kunst.

Noch einmal stellt er sich seinem Lebenswerk und es gelingt ihm, was Wenigen gelingt: es im schönsten Sinne zu „voll-enden“. Mit „Jazz“ schafft er einen Werkzyklus, der zur Vollendung dessen zu führen scheint, wonach er stets strebte: der absoluten Einfachheit der Form. Matisse hatte es bereits zu Erfolg gebracht. Und dennoch, oder gerade deswegen, brachte er den Mut auf, seine Kunst noch einmal zu radikalisieren.

Malen mit der Schere

Matisse ist über 70 Jahre alt, als er sich 1943/44 ganz den gouaches découpés widmet. Im Rollstuhl sitzend schnitt er Formen aus Papieren, die nach seinen Anweisungen monochrom eingefärbt wurden. Es ist ein Erschaffen, ein Malen mit der Schere. Sowohl Negativ als auch Positiv seiner ausgeschnittenen Formen kamen zum Einsatz. Mit Hilfe seiner Assistentin schob er Elemente hin und her, arrangierte sie, bis er mit der Komposition zufrieden war. Es galt, Farbe und Form auszubalancieren. Es konnte Monate dauern, bis Matisse mit einer Komposition zufrieden war. Und Komposition ist durchaus auch im musikalischen Sinne zu verstehen. 

Zwei Jahre arbeitete Matisse an den 20 Collagen, die schließlich 1947, nach dem Krieg, in Form eines Künstlerbuches in limitierter Auflage mit dem Titel „Jazz“ bei Tériade erschienen. Der Titel verweist auf den Zauber chromatischer und rhythmischer Improvisation. Bis diese stimmig war, ergänzte Matisse immer wieder Motive, veränderte bestehende, sortierte um. Die vollendete Struktur von Rhythmus und Wiederholung, die durch unerwartete Improvisation unterbrochen wird und dennoch nicht aus dem Gleichgewicht gerät, das lebendige Zusammenspiel, das war Jazz. Und das sollte dieses Buch sein. 

Der Bilderzyklus für Jazz ist der Höhepunkt, die reinste Form der papiers découpés

„Jazz“ gehört zu den wichtigsten Künstlerbüchern des 20. Jahrhunderts. Die Motive sind Erinnerungen an Zirkus, Volksmärchen und die vielen Reisen, die Matisse unternommen hatte. Clowns, Akrobaten oder Säbelschlucker spielen im Wechsel mit handschriftlichen Gedanken über Glück, Tod oder Religion die Klaviatur des menschlichen Lebens.  

Der Bilderzyklus für „Jazz“ ist der Höhepunkt, die reinste Form seiner papiers découpés. Durch die Einfachheit der Mittel, die Beschränkung auf das Wesentliche, wird eine explosive Expressivität und Schärfe erreicht.  
 
Durch ein neues aufwändiges Schablonendruckverfahren, für die die Stencils per Hand aus dünnen Metallblechen ausgeschnitten und mit Gouache bestrichen wurden, war es Tériade möglich, Matisse Farben getreu widerzugeben. Japanisches Grün, dunkles Cadmium Gelb, tiefes Cadmium Rot, persisches Violett oder Ocker tanzen über die Seiten. Die farbenfrohen Bilder strahlen eine unbeschwerte Leichtigkeit aus, die man von einem kranken alten Mann kaum erwarten würde.

Er hatte seinen Frieden in der Einfachheit gefunden

Seine extreme Reduktion der Collage war ein mutiger Schritt, der ihm auch Spott einbrachte. Doch Matisse fühlt sich in diesem letzten Lebensjahrzehnt scheinbar wirklich frei. Zielsicher fährt er mit der Schere durch vorbereitete Papiere, schafft riesige Projekte, äußert angeblich, was er wirklich denkt und fühlt. Er habe zu seinem wahren Selbst gefunden, soll er gesagt haben. Frei, jeglicher Anspruchshaltung von außen entfesselt, schuf er die Arbeiten, die sein Werk zur Vollendung führen sollten, die Werke, an die wir uns sofort erinnern, wenn der Name Matisse fällt.

Seine Hauptmotive kehren wieder. Doch in ihrer absoluten Form. Direkt und ohne Umwege malt Matisse sie mit der Schere. Er hatte seinen Frieden in der Einfachheit gefunden. Moderne Kunst und Religion, Kunst und Dekoration, Orient und Okzident, Abstraktion und Gegenständlichkeit sind nach wie vor die vermeintlichen Widersprüche, um die sich sein Ausdruck dreht. Doch am Ende hat man den Eindruck, dass er eine Brücke gebaut hat. Plötzlich spielt alles zusammen. So leicht und selbstverständlich, als hätte es nie in Frage gestanden.

Am 3. November 1954 starb Matisse an einem Herzanfall über den Skizzen zu der „Rockefeller Rose“, einem Glasfenster für die Rockefeller-Kapelle in New York. In Form von gouaches découpées probierte er die Entwürfe in seinem Atelier aus. Schönheit hatte ihn umgeben, Schönheit hat er geschaffen.