Bereits in seinem Frühwerk integrierte HANS HAACKE Tiere und Pflanzen als Ko-Akteure in seine Kunst. Damit legte er nicht nur den Grundstein für die Neudefinition der Skulptur, sondern stellte auch die Weichen für eine zeitgenössische Kunstpraxis wie sie etwa von Pierre Huyghe vertreten wird.

1965 entwarf Hans Haacke mit den ZERO-Künstlern Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker am niederländischen Pier von Scheveningen ein skulpturales Freiraum-Ensemble  aus Tonnen mit Feuer auf Flößen, Bojen als mobile Skulpturen, Flaschenpost mit ZERO-Botschaften, Silberfolie auf dem Wasser und Rauchobjekten.  Haacke plante, über einer schwimmenden Futterstelle Möwen zu versammeln, deren Flugformationen und ‘Masse‘ er als ‘Möwenplastik‘ begriff. Insbesondere in seinem Frühwerk (ca. 1965–72) setzte er Tiere und Pflanzen als Ko-Akteure für seine plastischen Konzeptionen ein und nannte sie humorvoll seine „Franziskanischen Arbeiten“. Der namensspendende Heilige gilt als Tierfreund und Ökologe. Damit zählt die ‘fliegende Skulptur‘ zu den frühen Werken, die mit lebendigem ‘Material‘ eine skulpturale Ästhetik des Lebendigen, d.h. sogenannte „Non-Human Living Sculptures“, etablierten.

Hans Haacke, Life Airborne System, 30.11.1968, Geplant 1965, realisiert 1968
Hans Haacke, hg. v. Walter Grasskamp, London & New York 2004, hier S. 101, © Hans Haacke/VG Bild-Kunst; image via burg-halle.de

Hans Haacke, Goat Feeding in Woods, 1970, © Hans Haacke / VG Bild-Kunst, Bonn 2019; image via zikg.eu

Hans Haacke, Ten Turtles Set Free, 1970; image via pinterest.com

In der Abkehr von einer klassischen Objektästhetik verlangen diese nach einer Neudefinition des Mediums Skulptur zugunsten einer „Skulptur als real-zeitlichem System“. So entfaltet sich die Skulptur erst vor den Augen des Publikums, ist nicht mehr statisch, sondern reagiert prozessbasiert auf ihre Umgebung. Ein Beispiel dafür ist „Goat Feeding in Woods“: Für die 1970 realisierte Arbeit konfrontierte Haacke in der südfranzösischen Fondation Maeght eine Ziege mit einer neuen Umgebung und Nahrung. Zu diesem real-zeitlichen und „biologischen System“ gehören die Wahl des Waldareals, Temperatur, Witterung, Artenvielfalt und Nahrungsvorlieben des Tieres, dessen Organismus und Metabolismus hier als eigene komplexe Systeme zum Thema werden. Die Aktion fungiert auch als institutionskritischer Verweis: In unmittelbarer Nachbarschaft des herrschaftlichen Museumsparks mit Skulpturen bekannter Bildhauer wie Joan Miró und Alberto Giacometti ließ der junge Haacke diese „lebende Skulptur“ fressend-modellierend agieren.

Die Grenzen zwischen Natur und Kultur

Mit der domestizierten und isolierten Ziege verteidigte er die Freiheit der Kunst gegenüber einer nur vordergründig gemeinnützigen Stiftung, die von dem Galeristen Aimé Maeght gegründet wurde. Mehr noch, Haacke kritisierte die Rolle von Künstler*innen als „Nutztiere“ innerhalb institutioneller Gefüge und des mächtigen Kunstmarktsystems. Gleichzeitig entließ er während der Eröffnung zehn, in einer Tierhandlung gekaufte, Schildkröten in die Freiheit und entwarf in diesen Jahren auch mehrere künstliche Mikroklimata mit Wasser Regen, Schnee, Eis und Wasserdampf – eine institutionskritische „Demonstration“, mittels Kunst ein eigenes, unabhängiges Klima zu erzeugen. Seine „Franziskanische Serie“ hinterfragt demnach nicht nur die Grenzen eines Werks in Bezug auf seine Umwelt, sondern auch die Grenzen zwischen Kultur und Natur, weshalb sie signifikant für die gegenwärtige Kunstpraxis ist.

Pierre Huyghes‘ inzwischen ikonische Arbeit „Untilled“, die er für die documenta 13 (2012) konzipierte, ist hierfür exemplarisch. Sein begehbares Biotop in der Kasseler Karlsaue stellt die Dichotomie von Natur versus Kultur in Frage. Doch Huyghe wählte dafür nicht den Weg der „Zähmung“ von Natur, wie sie etwa in barocken Gartenanlagen vorzufinden ist, stattdessen favorisierte er einen „Nicht-Ort“ – die Kompostieranlage am Rand des Parks. Der Titel verdeutlicht dies: Unkultiviert, Unbestellt. Doch liegt hierin ein konzeptuell verankertes Paradoxon: Denn es handelt sich nicht – auch wenn dies durchaus suggeriert wird – um ein „terrain vague“, also einem verlassenen Zwischenraum in urbanem Gefilde. Stattdessen wurde das Gelände von Huyghe detailliert geplant und komponiert.

Minutiös geplant und schwer zu kontrollieren

Das hügelige Areal gliederte er mithilfe von aufgeschütteten Sandhaufen, Humus, Asphaltfragmenten, würfelförmigen Pflastersteinen und zu Stapeln geschichteten Bodenplatten. Außerdem bepflanzte er es mit halluzinogenen und aphrodisierenden Gewächsen. In einem mit Wasser gefüllten Betonbecken lebten Kaulquappen, die zu Fröschen heranwuchsen. Sogenannte Marker „of history, and markers that I am marked, affected and influenced by“ (Huyghe) waren überall verteilt: ein toter Baum als Reminiszenz an Robert Smithsons „Dead Tree“ (1969), eine umgekippte Betonbank mit pinkfarbener Sitzfläche von Dominique Gonzalez-Foersters „A plan for Escape“ aus der Documenta 11 (2002), eine entwurzelte Eiche mit Basaltstein von Joseph Beuys´ „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ aus der Documenta 7 (1982) und die Replik eines Frauenaktes von Max Weber aus den 1930er-Jahren, dessen Kopf von Bienenwaben verhüllt war. Human, die weiße Podenco-Hündin mit magentafarbenem Bein, und ein braun-weißer Welpe mit gleichfarbiger Pfote durchstreiften das Gelände in Begleitung eines Hundehüters.

Pierre Huyghe, Untilled, 2011–12 Living entities and inanimate things, made and not made Foto © Pierre Huyghe; image via estherschipper.com

Pierre Huyghe, Untilled, 2011–12 Living entities and inanimate things, made and not made Foto © Pierre Huyghe; Image via estherschipper.com

Den neugierig auf der Suche nach dem Kunstwerk umherschreitenden Besucher*innen zeigte der Künstler Natur in verschiedenen Stadien des Werdens und Verfallens, sodass man geneigt war, zu fragen, was schon vorher da gewesen war beziehungsweise wo genau Huyghe eingegriffen hatte. Einiges würde ohne den Künstler ähnlich vor sich gehen: Ameisen verteilen Samen, verwerten Pflanzenreste und Kadaver; Kompostabfälle verrotten zu Humus, zersetzt von Käfern und Würmern; Bienen bestäuben Blüten. Während der 100-tägigen Laufzeit veränderte sich die Vegetation; tierliche Protagonisten kamen dazu, andere verließen das ungezäunte Areal. „Untilled“ stellt demnach eine „skulpturale Situation“ dar, für deren Setting der Künstler zwar die Voraussetzungen erzeugte, doch den Akteuren anschließend weitestgehend ihren Handlungsraum überließ. Skulptur avanciert also wie schon bei Haacke zu einer Situation, indem sie im Beziehungsgefüge heterogener Objekte und Akteure entsteht.

Die Gegenüberstellung von Hans Haacke und Pierre Huyghe eröffnet neue Perspektiven auf das Medium Skulptur: Beide Künstler stellen die traditionsreiche Objektästhetik zugunsten von Offenheit, Prozessualität und Relationalität in Frage, indem sie mit unterschiedlichsten Akteuren beziehungsreiche Geflechte kreieren. Während Haackes Systeme jedoch offengelegt sind und sichtbar nachvollzogen werden sollen, bleiben bei Huyghe die Zusammenhänge größtenteils verborgen. Trotz aller Dynamik konzipieren beide Protagonisten ein ‚Bild‘ im Vorhinein, das im Laufe der Ausstellung bei Huyghe ungeachtet der suggerierten Offenheit einer Modifizierung und kontinuierlichen Pflege unterlag. Beide Künstler simulieren und domestizieren Natur; sie stellen mit ihren „non-human living sculptures“ eine vom Menschen erzeugte Natur aus, d.h. eine „Dritte Natur“ und tragen damit maßgeblich zur Erweiterung des Skulpturalen bei.

HANS HAACKE. RETROSPEKTIVE

8. NOVEMBER 2024 – 9. FEBRUAR 2025

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