Im Rahmen der Ausstellung „Privat“ bietet der britische Fotograf Richard Billingham schockierend tiefe Einblicke in sein Familienleben mit Fotografien aus der Serie „Ray’s a Laugh“.

Die menschliche Neugier ist unbestritten, wir alle sind interessiert an privaten Geschichten. Doch nicht allein Promiskuität, Intrigen und Exhibitionismus sind es, die uns in den Bann ziehen. Insbesondere die Privatsphäre der Menschen aus sozialen Brennpunkten und ihre familiären Lebensverhältnisse lassen uns näher ans Schlüsselloch rücken. Der Brite Richard Billingham gibt mit seiner Bilderserie „Ray´s a Laugh“ einem intimen Einblick in sein Familienleben – und was wir sehen, sollte uns zu denken geben.

The Billinghams: A Laugh?

Die Tür ist weit geöffnet. Ein schlanker Mann mit ergrautem Haar sitzt schlafend auf dem Fußboden in einer Ecke. Nach genauer Betrachtung ist es die Toilette, auf der er Zuflucht gesucht hat. Den rechten Arm auf seine durchgestreckten Beine gelegt, stützt er sich mit dem linken auf dem Toilettensitz ab. Der dreckige Fußboden, die schäbige Tapete und mittendrin: Ray – Richard Billinghams Vater. Dass das Verhältnis des Künstlers zu seinem Vater schwierig war, bezeugt Billinghams Zitat: „So ist mein Vater, er interessiert sich für nichts, außer dem Trinken!“ Und so gleicht auch der Titel der Fotoserie einer Anschuldigung: „Ray´s a Laugh!”

Die Aufnahmen seiner Mutter stehen den peinlichen Entblößungen und Entgleisungen des Vaters in nichts nach. Liz ist eine blasse, fleischige Gestalt, ihre Arme sind tätowiert, die Haare zerzaust. Sie trägt weite Kleider mit Blumenmotiven, ihr größtes Hobby scheint das Puzzeln zu sein, vom Kettenrauchen abgesehen. Diesen Steckbrief seiner Mutter präsentiert Billingham dem Besucher in der Ausstellung „Privat“.

Mitten im Leben

Die Bilder suggerieren einen von jahrelanger Arbeitslosigkeit, Alkoholkonsum, Fastfood und Fernsehen dominierten Alltag der Familie. Billingham wuchs in einem Mietshaus in den West Midlands auf, einer von Sozialbauten, Kriminalität und Arbeitslosigkeit geprägten Region im Westen Englands. Der Brite hielt prägende Momente und Zustände seines Umfeldes in einer gnadenlos offenen Bilderserie fest.

Die Fotos, welche der junge Billingham als Student der Malerei ursprünglich als Vorlagen für Körperstudien anfertigte, sorgten in der Kunstwelt schnell für Aufsehen. Der Bildredakteur Julian Germain des „Sunday Telegraph Magazine“ veröffentlichte die Arbeiten in dem Bildband „Ray´s a Laugh“. Der Titel „Ray’s a Laugh“ ist der gleichnamigen Radio-Show entlehnt, in der der englische Komödiant Ted Ray von 1949 bis 1961 ein großes Publikum unterhielt. 1996 wurde Billingham mit einem Fotopreis ausgezeichnet – da war er gerade 25 und jobbte in einem Supermarkt. 1997 wurden seine Fotografien als Teil von Charles Saatchis „Sensation“-Ausstellung gezeigt. Billingham wurde berühmt, vier Jahre später folgte die Nominierung für den Turner Prize.

Privatheit als Konsum

Die Beliebtheit solcher Aufnahmen und ihre Würdigung als „Sensation“ ist keine Randerscheinung. Familien, die als Randgruppen in armen Verhältnissen leben, ihr von Sorgen und Streitereien bestimmter Alltag, gehören schon seit Jahrzehnten zum alltäglichen Fernsehprogramm. Reality- und Unterhaltungsshow-Formate erfreuten sich in Form von Talkshows bereits seit den 1990er-Jahren großer Beliebtheit. Privates, gerne aus dem familiären Umfeld, wurde im Fernsehen öffentlich diskutiert und ging nicht selten einher mit der Verletzung von Werten und Tabus. Dabei scheint beim Publikum vor allem die Befriedigung voyeuristischer Interessen ausschlaggebend zu sein.

Die Arbeiten Billinghams stellen nicht nur eine von Schaulust und Voyeurismus getriebene Faszination in Frage, die Menschlichkeit und Respekt gegenüber der Privatsphäre des Anderen vergessen läßt, sondern verdeutlichen auch, dass unsere Gesellschaft innerhalb der letzten Jahrzehnte einen markanten Wandel vollzogen hat: Die Medien überhäufen uns heutzutage mit intimen Peinlichkeiten, Entblößungen und Streitereien, unsere Gesellschaft genießt den Umgang mit solchen Bildern und konsumiert Familientragödien zur persönlichen Unterhaltung allabendlich vor dem Fernseher.

Für den Künstler Richard Billingham war der Erfolg seiner Fotoserie „Ray’s a Laugh“ Fluch und Segen zugleich. Der Schritt, die intimen Fotos, die noch dazu zu einem ganz anderen Zweck entstanden, einer großen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, führte einerseits zu großer Aufmerksamkeit in der Kunstwelt und darüber hinaus. Andererseits versperrten die Fotos dem jungen Künstler, der eigentlich die Karriere eines Malers anstrebte, fortan den Weg in die Malerei. Bis heute würdigt man Billingham in erster Linie für die fotografischen Einblicke in sein prekäres Familienleben – andere Aspekte seines künstlerischen Schaffens werden hingegen nur selten wahrgenommen. Diese Tatsache wiederrum läßt sich leicht mit einer Lust der Öffentlichkeit an privaten Tragödien erklären.