In der Ausstellung „Edvard Munch. Der moderne Blick“ zeigt der Raum „Sehstörungen“ wie der Künstler seine Augenkrankheit zum Anlass für beinahe wissenschaftliche Studien der Selbstbeobachtung nahm.

Ein leuchtender Kreis, der zu vibrieren scheint: rote, gelbe, violette Ringe schlängeln sich um ein weißes Zentrum und verlaufen ineinander. Um ihn herum: dunkle Flecken, Kleckse, Kreise, Linien. Edvard Munch zeichnete das Aquarell „Netzhaut Optische Täuschung" im Herbst 1930. Da war er 66 Jahre alt. Kurz zuvor hatte sein Augenarzt ihm eine schwere Augenkrankheit diagnostiziert: Ein Netzhautriss, der eine Blutung im Glaskörper des rechten Auges zur Folge hatte.Ein ungewöhnlicher EntschlussMunch war beunruhigt. Schließlich war sein rechtes Auge immer sein besseres gewesen. Außerdem hatte er Angst, vollständig zu erblinden. Doch langsam verbesserte sich sein Zustand, und in den folgenden Monaten fasste er einen ungewöhnlichen Entschluss: Er wollte seine Krankheit zum Anlass für Selbstbeobachtungs-Studien nehmen. Also hielt er über einen Zeitraum von mehreren Monaten systematisch in Bildern fest, was Mediziner „entoptische Eindrücke" nennen. Darunter versteht man visuelle Phänomene, die in den eigenen Augen entstehen.

Bei Munch war im Innern des Auges der Bluterguss zu einem Fleck geronnen, der das normale Sehen überlagerte. Seine Wahrnehmungen beschrieb er im Juli 1930 so: „Ein großer dunkler Vogel bewegte sich langsam vor mir -- ein Vogel mit dunkelbraunen Federn -- von dem eine leuchtend blaue Strahlung ausging, die ins Grün umschlug, um sich schließlich in einen herrlich gelben Ring zu verwandeln -- der seine Position veränderte (...) und alles, was er mit seinen Farben streifte, begann sich zu bewegen -- auf der Chaiselongue krochen dicke Schlangen in den herrlichsten Farben umher und rollten sich zusammen." An anderer Stelle schrieb er: „Die dunklen Punkte, die wie kleine Krähenschwärme häufig ganz oben auftauchen (...) könnten Blutreste sein, die sich am Rand des kreisförmigen verletzten Teils angesammelt haben (...)."

Munchs innere Selbstportraits

Die sich umschlängelnden Farben und die dunklen Punkte, die Munch an Krähenschwärme erinnerten, hat er in seinem Aquarell „Netzhaut Optische Täuschung" festgehalten. Obwohl das Bild auf den ersten Blick abstrakt erscheint, ist es in Wahrheit gegenständlich, weil der Künstler das zeichnete, was er sah. Das Werk ist eine Art inneres Selbstportrait.

Bei seinen visuellen Studien ging Munch sehr präzise und beinahe wissenschaftlich vor: Bevor er zu zeichnen begann, deckte er sein linkes, zu diesem Zeitpunkt besseres Auge, mit einer Hand ab, damit er die Eindrücke seines kranken Auges intensiver wahrnehmen konnte. Er notierte den Abstand zwischen seinem Auge und dem Papier. Außerdem sah er sich den Fleck in unterschiedlichen Lichtverhältnissen an, sowie mit Brillen verschiedener Stärke.

Der subjektive Vogel

In allen Zeichnungen, die im Herbst 1930 entstanden, taucht der Vogel, beziehungsweise der Fleck auf. Auf einigen Bildern integrierte Munch den Vogel in objektive Darstellungen von Zimmern oder Landschaften. So wie sich der Zustand von Munchs Auge veränderte, je mehr die Blutung zurückging, desto stärker veränderten sich auch seine Arbeiten: War der Vogel am Anfang seiner zeichnerischen Studien ein großer, massiver Fleck, zerfiel der Vogelkörper später und löste sich auf. Allein der Vogelkopf blieb bestehen. Immer wieder erscheint der Vogel als große Bedrohung: Einmal stellte der Künstler ihn als grinsenden Totenkopf über seinem Bett dar, auf einer anderen Zeichnung als einen wütenden Schwarm, der ihn angreift. Angst und Tod sind wichtige Themen im gesamten Werk Munchs. Auf vielen Bildern, die er während seines Augenleidens schuf, ist diese Angst wieder zu spüren.

Insgesamt war die Phase der entoptischen Studien kurz und intensiv. Ähnliche Arbeiten findet man in Munchs späterem Werk nicht mehr. Aber die wenigen Zeichnungen zeigen, wie sehr sich Munch für die Wissenschaft interessierte. Außerdem kann diese Phase der Selbstbeobachtungen als Beleg für seine Modernität dienen: Er richtete den Blick nach innen und stellte das Sehen selbst dar.