Am 30.07. zeigt die SCHIRN im DOUBLE FEATURE den Film „Faire le mur“ der französischen Künstlerin Bertille Bak. Im Anschluss an ein Gespräch wird ihr Lieblingsfilm „La Cabale des Oursins“ von Luc Moullet zu sehen sein.

Die Geschichte der Menschheit liest sich im gewissen Maße auch immer wie eine Geschichte der Vertreibung: Angefangen bei jener Adams und Evas aus dem Paradies, weiter über die Zeit der großen Völkerwanderungen in der Spätantike bis hin zu den Vertreibungen und Umsiedlungen im Rahmen von Kriegen und Industrialisierung in der Neuzeit. Jener Mensch, der seinem entweder selbst erwählten oder vermeintlich angestammten Wohnsitz verlassen muss, ist ein Symbol für Verlorenheit und Entwurzelung schlechthin und wird gerade im Rahmen der Gentrifizierungsdebatten der letzten Jahre immer wieder gern thematisiert. Eine Möglichkeit, auf eine solch drohende Veränderung der eigenen Lebenssituation zu reagieren, kann man im gut 17-minütigen Kurzfilm „Faire le mur" (2008) der in Paris lebenden Künstlerin Bertille Bak sehen.

Ihr Heimatort wird auf Wikipedia mit folgenden Worten beschrieben: „Barlin ist heute ein moderner und dynamischer Ort, der seinen Bewohnern eine Vielzahl an Annehmlichkeiten bietet: Schule & Hochschule, ein Schwimmbad, eine Bücherei und Sporthallen." Im Film ist vom beschriebenen Ort noch nichts zu sehen, stattdessen alte Häuser, die ihre besseren Tage schon lange hinter sich haben, und verlassene, baufällige Straßen, die der Eine idyllisch und der Nächste unmodern nennen mag. Die Stadt erlebte ihre Blütezeit mit der Eröffnung einer nahegelegenen Kohlemine in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ihren postindustriellen Verfall, wie unzählige andere Städte in der nordfranzösischen Region ab den 1960er-Jahren, als die Mine geschlossen wurde. Um diese Entwicklung zu stoppen, wurden enorm umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen beschlossen, deren Resultat sich jedoch auch in höheren Mieten wiederspiegelt und somit etliche Bewohner zum Umzug in andere Städte nötigte.

Das Leben der Bewohner Barlins wird in einer märchengleichen Art gezeigt: Man lebt in gemeinschaftlicher Harmonie, teilt sich täglich die Zeitung, die Häuser sind untereinander mit einer Art selbst gebautem Büchsentelefon verbunden. Kindlich-trotzig reagiert man im Folgenden auch auf den ersten anrückenden Bagger: man versperrt die Straße mit einer selbst gebauten Mauer und wirft mit Ziegelsteinen. Da die Bewohner jedoch wissen, dass sie der Re-Modernisierung schlussendlich nichts entgegensetzen können, denken sie sich noch einen letzten Coup aus, der die neuen Bewohner der Stadt auf ewig an sie denken lassen soll.

Verlierer und anachronistisch anmutende Überbleibsel

Bertille Bak, geboren 1983 in Arras in der Nähe von Barlin, beschäftigt sich in ihren größtenteils filmbasierten Arbeiten mit den Lebenswirklichkeiten oft marginalisierter Gruppen und gerade das Thema der Vertreibung spielt hierbei immer wieder eine gewichtige Rolle. In „Transport à dos d'homme" (2012) setzt sich die Künstlerin so in einer Kombination aus Film- und Soundinstallation mit dem Alltag der Sinti und Roma in Frankreich auseinander, die sowohl von Sarkozy als auch von den Sozialisten immer wieder der Abschiebungsdrohung ins vermeintliche Heimatland ausgesetzt waren. Mit den Bewohnern einer vom Abriss bedrohten Wohnsiedlung in Thailand erstellte die Künstlerin im Jahr 2010 die Arbeit „Safeguard Emergency Light System" und in „Urban Chronicles" (2011) beschäftigt sich Bak mit osteuropäischen Einwandern in New York. Der überspitze Erzählstil, der auch in „Faire le mur" sofort ins Auge fällt, abstrahiert hierbei vom konkreten Einzelfall ebenso wie es ihn gleichzeitig zu etwas Einmaligen macht.

Bertille Baks Lieblingsfilm für den Abend heißt „La Cabale des Oursins" (1991) und stammt vom französischen Filmemacher und Kritiker Luc Moullet. Mit gerade mal 18 Jahren schrieb Moullet schon für das sagenumwobene Filmmagazin "Cahiers du cinéma", aus dessen Dunstkreis zahlreiche Regisseure der Französchen Nouvelle Vague hervorgingen, so beispielsweise Jean-Luc Godard, François Truffaut, Eric Rohmer und Claude Chabrol. Moullet selbst drehte von 1960 an hauptsächlich Kurz- und Dokumentarfilme, blieb jedoch dem Kritikerdasein treu, da seinen Werken nicht der Erfolg seiner Kollegen vergönnt war. „La Cabale des Oursins" (wörtlich: Das Ränkespiel der Seeigel) ist ein gut viertelstündiger Dokumentarfilm über die Kohlehalden Frankreichs und Belgiens, in dem der Regisseur die eindrucksvollen, menschengemachten schwarzen Kolosse mit der Kamera umkreist und humorvoll neue Nutzungsmöglichkeiten überdenkt. Jene Kohlehalden, die auf den immer wieder gezeigten Landschaftskarten tatsächlich Ähnlichkeiten mit Seeigeln aufweisen, können dann auch analog zu den von Bertille Bak gezeigten Dorfbewohner verstanden werden: Als Verlierer und anachronistisch anmutendes Überbleibsel im Post-Industriellen Zeitalter.