Von physischen und philosophischen Räumen in der Kunst von Doug Aitken.

Die Frage „Was ist ein Raum?“ ist wahrscheinlich so alt wie die Wissenschaft und die Philosophie selbst. So lange die Überlegungen zu ihm bereits angestellt werden, so kurz und widersprüchlich ist die Antwort: Der Raum ist eine abstrakte Vorstellung, aber ebenfalls ein Ordnungsmodell, mathematisch festgelegt durch die Menge aller durch drei Koordinaten beschreibbaren Punkte. Er ist eine in Länge, Breite und Höhe nicht fest eingegrenzte Ausdehnung, aber zugleich eine auf diese Weise fest eingegrenzte Ausdehnung. Kurzum, der Raum ist ein Gegensatz in sich – und damit eine willkommene Experimentierfläche für Künstler, die aus sich heraus bereits so viel Diversität bietet, dass sie für einen Multimediakünstler wie Doug Aitken der ideale Austragungsort seiner „lebenden Kunstwerke ohne ein wirkliches Ende“ ist.

Als Land Artist einer neuen Generation holt Aitken mit seinen Installationen die äußere (Um-)Welt dafür in den Ausstellungsraum und „updatet“ sie mit den technischen Möglichkeiten des Menschen. Die Arbeit „Song 1“, die ursprünglich als Außeninstallation konzipiert war, wird eigens für die Retrospektive in der SCHIRN transformiert, um in einer Galeriesituation zu funktionieren; gemeinsam mit „Diamond Sea“, „Black Mirror“ und „Sonic Fountain II“ bildet sie eine Sequenz in Harmonie mit der Museumsarchitektur. Das Ergebnis: Die der Natur nachempfundene Kunst wird laut Aitken zu einer „psychologischen Reise“. Ein Raum im Raum entsteht, erschaffen mithilfe eines dritten Raums. Zwei von ihnen sind physische Räume, einer ein teils abstrakter, teils von den beiden anderen Räumen bedingter Erfahrungsraum.

Der Raum mal drei: von physischen und philosophischen Räumen

Das Zusammenkommen zweier physischer Räume ist demnach der Ausgangspunkt von Doug Aitkens Installationen: das der Natur beziehungsweise des Außenraums, der dem Künstler sowohl Ideengeber als auch Materialspender ist, und des Ausstellungsraums selbst, in den die Fragmente des ersten Raums wandern. Wurde der Naturraum in Doug Aitkens Arbeit bereits in dem Artikel „Land Art Revisited: Doug Aitken“ ausführlich behandelt, ist der zweite physische Raum schnell ermessen. Der Museumsraum als Zusammenfassung aller einzelnen Räume in der SCHIRN, die ein Besucher durchschreitet, ist ein architektonischer und mathematischer Raum, der in Relation zu den materiellen Objekten in ihm steht. Nur bedingt ist dieser zweite Raum flexibel, denn er bleibt ein messbarer Behälter für Materie. Diese „Materie“, das ist in der Ausstellung die Summe der Skulpturen und Installationen von Doug Aitken – die wiederum via ihrer physischen Präsenz nur mangelhaft erfasst sind, macht ihr materielles Wesen nämlich nur einen Teil ihrer Definition aus. Vielmehr ist es ebenso und vor allem ihr fiktionaler, erfahrbarer, abstrakter Part, der diesen Raum geradewegs zum Herzstück von Aitkens beziehungsreicher, mehrschichtiger Kunst macht.

Doug Aitken, Sonic Fountain II, 2013/15, Installationsansicht SCHIRN Kunsthalle Frankfurt, Foto: Norbert Miguletz

Dieser dritte, durch Wechselbeziehungen erschaffene Raum hat keine Grenzen, kein Ende, aber birgt jenen besucherindividuellen Messwert der Erfahrungen im Gegensatz zur rein voyeuristischen Betrachtung: Raumgreifende Filminstallationen erzeugen bei Aitken eine neue optische Tiefe und Ausblicke, die häufig die (Um-)Welt referieren; ortspezifische Sounds erweitern die Sinneserfahrungen eines Besuchers solcher künstlerischer Landschaften, korrelierende Skulpturen die visuelle Vielfalt. Aus ihnen gemeinsam entsteht der Eindruck eines neuen Raumes, nicht real, aber auch nicht komplett fiktional. Denn Doug Aitken bedient sich einer Referenz auf die Wirklichkeit, extrahiert einen Ausschnitt daraus und erzeugt einen neuen Erfahrungsraum, der mit wissenschaftlich-pädagogischer Neugierde und künstlerischem Anspruch existenzielle Fragen des Lebens stellt. 

Die Reise, auf die Aitken die Besucher dabei mitnimmt, führt im Kontext seiner Einzelschau in der SCHIRN nicht nur über 1.400 Quadratmeter Ausstellungsfläche durch repräsentative, ausgewählte Arbeiten aus seinem Oeuvre, sondern mit Blick auf das Wesen jedes einzelnen Werkes ebenfalls durch eine Übergangszone aus Wirklichkeit und Kunstwelt. Dieser Raum ist als philosophischer ebenso eine grundlegende Komponente der Wirklichkeit wie der materielle „Behälter“. Ein leerer Raum, der darauf wartet, von dem wahrnehmenden und erfahrenden Subjekt, also dem Besucher, ausgefüllt zu werden. Oder in den Worten des befreundeten Künstlers Thomas Demand: „This is Doug’s world, dive in!“

Doug Aitken, Song I, 2012/15, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Foto: Norbert Miguletz