Die letzten Bilder Alexej von Jawlenskys dokumentieren eindrucksvoll das Aufbegehren des Künstlers gegen den körperlichen Verfall und sind gleichzeitig eine konsequente Weiterführung seines einzigartigen Stils.

Alexej von Jawlenskys „Meditationen“ haben wenig von jenem glückseligen Zustand, den die Praxis der inneren Sammlung gemeinhin verspricht. Statt seliger Ruhe blicken dem Betrachter auf merkwürdige Weise verstimmte Gesichter entgegen, mit geschlossenen Augen zwar, aber eben doch deutlich geplagter und gequälter, als man dies von einem meditierenden Menschen erwarten würde. Auch die zugehörigen Titel lassen keinen Zweifel daran, dass die Sicht nach Innen durchaus auch Schmerzvolles zu Tage befördern kann: „Verhaltene Glut“ und „Trauer muss Elektra tragen“ heißen zwei der in der SCHIRN-Ausstellung „Letzte Bilder“ präsentierten Malereien, die aus Jawlenskys Werkreihe ausgewählt wurden. Ein dritter bringt den inneren Zustand seiner meditierenden Figur noch deutlicher auf den Punkt: „Große Meditation III 1937 N. 16 (Das Große Leiden)“ – ein Titel, der nur wenig Interpretationsspielraum über die Stimmung des mit Augen, Brauen, Nase und Mund sehr reduziert gehaltenen Gesichts zulässt.

Tatsächlich fertigte Alexej von Jawlensky seine „Meditationen“ in den letzten Jahren seines Lebens. In dieser Zeit machte sich die Krankheit des Malers zunehmend bemerkbar, prägte seinen Alltag und somit auch seine künstlerische Arbeit: Ende der 1920er-Jahre stellte von Jawlensky erste Symptome einer rheumatoiden Arthritis fest, die schließlich auch ärztlich diagnostiziert wurde. Kuraufenthalte konnten seine Beschwerden nur zeitweilig lindern, immer wieder machten dem Maler Lähmungserscheinungen vor allem in den Händen, später auch in den Beinen zu schaffen. Nach und nach entwickelte der deutsch-russische Künstler eine Methode, trotz seiner teils massiven körperlichen Einschränkungen weiterhin malen zu können. Mit einfachsten Mitteln, im kleinen Format mit langen, durchgehenden Pinselstrichen auf Malpapier oder Karton gebracht, konnte Jawlensky mit dieser Methode bis zur vollständigen Lähmung im Jahr 1938 noch Hunderte Arbeiten realisieren.

Die „Meditationen“ sind somit Ausdruck einer notwendigen Veränderung des künstlerischen Schaffens, geprägt durch die behindernde Krankheit, und gleichzeitig ein letzter Triumph, ein trotzendes Aufbegehren gegen diese. Betrachtet man die Werkreihe im zeitlichen Ablauf, so lässt sich das Fortschreiten des körperlichen Leidens fast bildlich ablesen. Die letzten Malereien, zu denen auch das anfangs genannte „Große Leiden“ zählt, werden zunehmend düster, sowohl in der Farbauswahl als auch im Gesichtsausdruck der dargestellten Figuren. Die jeweiligen Titel sind übrigens nicht alle von Jawlensky selbst gewählt worden: Wie Ulf Küster im Ausstellungskatalog zu „Letzte Bilder“ erklärt, hatte der Künstler selbst eine Art Anleitung zur Betrachtung und Auseinandersetzung mit den von ihm ausgestellten „Meditationen“ präsentiert – die dann zum Beispiel von seinen Sammlern in offenbar äußerst treffende Titel gefasst wurden.

Ein bekanntes Motiv 

In ihrer enorm reduzierten Form, der zum Ende hin nahezu monochromen Farbauswahl und dem nur aufs Nötigste beschränkten Pinselstrich stellen die „Meditationen“ einen deutlichen Kontrast zu den früheren, oft äußerst farbenprächtigen Malereien des expressionistischen Künstlers dar. Das Motiv der Gesichter hingegen zieht sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk Alexej von Jawlenskys. Geboren und aufgewachsen in Russland, widmete sich der Maler nach dem Besuch an der Russischen Kunstakademie zunächst dem Realismus. In Deutschland traf Jawlensky bald einige seiner langjährigen Weggefährten, stellte zusammen mit den Künstlern des Blauen Reiter aus und entwickelte so zunehmend seinen eigenen Malstil, der ihn mit seinem ungewöhnlichen Einsatz von Farbe, Licht und Form als einen herausragenden Vertreter des frühen Expressionismus kennzeichnet. 1917 schließlich entdeckte Jawlensky sein Interesse für das menschliche Gesicht, dem er sich in der Reihe „Mystische Köpfe“ widmete. Es folgten die „Heilandsgesichter“ und schließlich die „Abstrakten Köpfe“, die in ihrer deutlichen Reduktion und in dem zunehmenden Verzicht auf individuelle Merkmale bereits als eine Vorwegnahme der späteren Meditationen gedeutet werden können.

In seinem letzten Werkzyklus zeigt sich also ein durchaus paradoxes Moment: Einerseits lesen sich die „Meditationen“ wie eine logische Weiterentwicklung des künstlerisch eingeschlagenen Werdegangs von Jawlensky, andererseits sind die hier gewählten Mittel eindeutig von den zum Schluss stark eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten des Malers bestimmt. Verbunden mit der persönlichen Biografie wird der melancholische Eindruck, den zahlreiche Gesichter ausstrahlen, nochmals verstärkt. Gleichwohl sind Jawlenskys „Meditationen“ alles andere als ein unmittelbarer Ausdruck physischen Leidens. Ganz ähnlich wie Stan Brakhage, dessen letzter Film in der Ausstellung den Meditationen gegenübergestellt wird, entwickelte Jawlensky in den letzten Jahren seines Lebens noch einmal eine völlig neue Bildsprache, die einerseits stark von den körperlichen Einschränkungen geprägt ist, diesen gleichzeitig aber zu trotzen scheint. Allein mit den Möglichkeiten von Farbe, Duktus und Form schafft der Maler eine Werkreihe, die eine solche Kraft entwickelt, dass sie dem tatsächlichen, dem physischen und zum Schluss schmerzvollen Leben eigenständig entgegensteht. Dazu passt, was Alexej von Jawlensky bereits als Mitglied der „Neuen Künstlervereinigung München“ und somit lange Zeit vor seinem körperlichen Gebrechen verkündete: „Ein Kunstwerk ist eine Welt, nicht Nachahmung der Natur.“