Die kommende Ausstel­lung WALK! präsentiert einen Über­blick über zeitgenössische Kunst, die das Gehen mit den Heraus­for­de­run­gen unse­rer Zeit verschrän­kt. Let’s go!

Die Schirn widmet vom 18. Februar bis 22. Mai 2022 den bisher kaum beleuchteten Facetten des Gehens in der zeitgenössischen Kunst eine große international besetzte Gruppenausstellung. Mit Fotografien, Videoarbeiten, Performances, Collagen, Zeichnungen, Malereien und Skulpturen präsentiert die Ausstellung WALK! einen Überblick über das Spektrum künstlerischer Positionen der Gegenwart, die die Fortbewegung zu Fuß ästhetisch mit den Herausforderungen unserer Zeit verschränken.

Der Akt des Gehens hat als gesellschaftliches Phänomen im 21. Jahrhundert an neuer Bedeutung gewonnen. Tätigkeiten wie Spazieren oder Wandern ermöglichen als sinnliche Erlebnisse eine Verbindung mit Natur und Umwelt sowie eine Neuerfahrung des Selbst. Zugleich betreffen sie gesellschaftliche Fragen des globalen ökologischen, geopolitischen und ökonomischen Wandels. Als künstlerische Praxis bringt das Gehen die Idee eines Raumes hervor, der strukturell mit den Bewegungen verwoben ist und neben städtischen und ländlichen Umgebungen mentale und virtuelle Räume miteinschließt.

Das ziellose Umherschweifen des Flaneurs, der bei Charles Baudelaire zum Künstler wird, kommt einer Konsumkritik gleich und wird in den 1950er-Jahren bei den psychogeografischen Experimenten der Situationisten zur Wiederaneignung des urbanen Raumes. Die Walking Art, die sich in den 1960er- und 1970er-Jahren neben der Land Art vor allem im Außenraum entwickelt, stellt die unmittelbare Naturerfahrung in den Mittelpunkt und fordert den die Natur dominierenden kulturellen Fortschritt heraus, indem sie das Wandern zum Material ihrer Arbeit macht. In Auseinandersetzung und Erweiterung der Walking Art dehnen die zeitgenössischen Werke der Ausstellung das künstlerische Gehen auf gesellschaftlich relevante Bereiche aus. Sie reflektieren aktuelle Debatten um Themen wie Globalisierung, Migration und Klimawandel und unternehmen eine Neukartierung des öffentlichen Raumes. Die Schirn versammelt mit „WALK!“ rund 100 Werke von über 40 internationalen Künstlerinnen und Künstlern, in deren Schaffen die diversen Aspekte des Gehens ein wesentliches Element darstellen.

Sebastián Díaz Morales, Pasajes III, 2013, Filmstill, © The artist and carlier | gebauer, Berlin/Madrid

Wie sich Gebiete durch ein umherschweifendes Gehen psychogeografisch verdichten und alternative Sichtweisen eröffnen, vergegenwärtigt Sebastián Díaz Morales in seinen Videos. Der Künstler montiert die Bilder von Städten, um sie in Form imaginierter Geografien wiederherzustellen und lässt seine Protagonisten durch diese magisch-realistischen Welten laufen. Rahima Gambo, die in ihren dokumentarischen Arbeiten Themen wie Postkolonialismus, Identität und Politik in Nigeria beleuchtet, unternimmt mit dem Projekt „A Walk“ eine psychogeografische Erkundung der Städte Lagos, Maiduguri und Abuja. Die Videos und Collagen sind Resultate einer inneren Kartografie der Künstlerin und beziehen Orte mit ein, die von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram angegriffen wurden. Mit performativen Aktionen webt Francis Alÿs auf seinen Spaziergängen neue Erzählungen in städtische Strukturen, die Teil der vielfältigen Geschichten der Stadt werden. Ein Video dokumentiert zum Beispiel eine mehrtägige Performance, bei der der Künstler einen kleinen magnetischen Spielzeughund auf Rädern durch die Straßen des Centro Histórico von Mexiko-Stadt hinter sich herzog und auf seinem Weg metallische Gegenstände sammelte.

Das Gehen im öffentlichen Raum schließt die Beobachtung der Umgebung und des Gehens an sich ein. Özlem Günyol & Mustafa Kunt reflektieren das Wechselspiel von äußerer und innerer Kontrolle, indem sie sich einen Tag lang von einem Privatdetektiv in New York beschatten ließen. Ohne den genauen Zeitpunkt der Observation zu kennen, wurde das Alltägliche durch den Verdacht überlagert. Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung verschmelzen auch in den Werken von Miae Son. Eine Videoarbeit zeigt die Künstlerin, wie sie den durch Michael Jackson bekannt gewordenen Tanzschritt Moonwalk praktiziert. Ihr wiederum kam die Idee zum Vorwärtsgehen bei gleichzeitigem Stillstand durch die Benutzung von Rolltreppen. Anhand von YouTube-Tutorials erlernte sie den Tanz, für den sie eine eigene gezeichnete Anleitung mit Spieluhrmechanismus entwickelte. 

Rahima Gambo, A Walk collage XX, 2018, © Rahima Gambo
Francis Alÿs, Ghetto Collector, 2003, Courtesy of the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zurich, Privatsammlung, Schweiz /Private collection, Switzerland

Zu den kontrollierenden Mitteln des Gehens gehören neben befestigten Wegen und Schildern auch Barrieren, die das Hinübergehen von öffentlichem zu nicht-öffentlichem Raum unterbinden. Diese nimmt die pakistanische Künstlerin Bani Abidi auf satirische Weise in den Blick. Ihre Drucke gleichen einem Spezial-Katalog für Stadtmobiliar zum Schutz und zur Sicherheit von Gebäuden sowie Plätzen und zeigen Objekte, deren Vorlagen aus ihrer Heimat Karachi stammen. 

Verbote oder Verweigerungen können zu einem Nicht-Gehen führen, das die sozialen Normierungen des Gehens offenlegt und Geschlecht, Herkunft oder körperliche Verfasstheit der gehenden Person hervorkehrt. Die Künstlerin Kubra Khademi widmet sich den Lebensbedingungen von Frauen in Afghanistan. Für ihre filmisch festgehaltene Performance geht sie in einer speziell angefertigten Metallrüstung durch eine belebte Gegend im Zentrum von Kabul und macht so auf die sexuelle und verbale Belästigung von Frauen im öffentlichen Raum aufmerksam. Eine Videoinstallation von Pope.L betont Abweichung und Normalität des Gehens. Der Künstler, der seit den 1970er-Jahren mit seinen Performances Rassismus und Ungleichheit in den USA verhandelt, kriecht bei widrigen Witterungsbedingungen in einem Superman-Kostüm durch das lebhafte Manhattan und wird dabei entweder nicht bemerkt, angestarrt oder sogar ausgelacht. Ideen von Fürsorge sowie Mitgefühl werden in Jesse Darlings Skulpturen verhandelt, die an Gehhilfen und die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers denken lassen. Die gleichzeitig aktivierten und ermüdeten Objekte kämpfen mit ausgeprägtem Widerstand gegen ihr eigenes Leiden, das deutlich im Raum spürbar ist. 

Bani Abidi, Security Barrier Type G - Traffic Police, Karachi, aus der Serie: Security Barriers A–Z, 2009–19, Courtesy of the artist and Experimenter, Kolkata
Pope.L, The Great White Way, 22 Miles, 5 Years, 1 Street (Segment #1: December 29, 2001), 2001–06, Courtesy of the artist and Mitchell-Innes & Nash, New York

Das Gehen kann wie in Minouk Lims Projekt „Portable Keeper“ von Ereignissen erzählen und deren Erinnerungen wachhalten. In Performances, die die Auswirkungen des Koreakriegs thematisieren, integriert die Künstlerin zwei Meter lange Skulpturen. Diese „Portable Keeper“ bewegen sich mit dem Performer durch die städtischen Gebiete und werden zu Erinnerungsträgern der sich verändernden Orte und ihrer Geschichte. Milica Tomić verbindet mit einer Aktion verschiedene Orte erfolgreichen antifaschistischen Widerstands während des zweiten Weltkriegs in Belgrad. Das Projekt „Los Angeles River Crossings“ von Hans Schabus erinnert an den gleichnamigen Fluss, der 1938 nach einer Hochwasserkatastrophe kanalisiert wurde und dessen Befreiung aus dem künstlichen Betonbett seit den 1980er-Jahren diskutiert wird. Der Künstler lief die rund 80 Kilometer des Flusses ab, dokumentierte die über 100 Brücken und widmete dem Weg des Wassers eine Karte, in der Los Angeles als Leerstelle erscheint.

Hiwa K erzählt mit einer Videoarbeit von seiner Flucht als Kind aus dem irakischen Kurdistan nach Rom, indem er einen Teil des Weges noch einmal zu Fuß abläuft. Auf Nasenbein und Stirn balancierte er dabei eine Stange mit montierten Fahrrad-, Auto- und Motorradspiegeln, die seine in viele Rollen zersplitterte Identität symbolisiert. Auch Tiffany Chung befasst sich in ihren multimedialen Arbeiten mit Migration. Mit den kartografischen Zeichnungen ihres „Global Refugee Migration Project“ reflektiert sie die zunehmende Vertreibung von Menschen, indem sie die Migrationsrouten und die Zahl der Ankommenden sowie der Toten und Vermissten festhält. Eine Videoarbeit zeigt eine uniformierte Menschenkette, die sich durch eine epische Landschaft bewegt und deren synchron aufeinander abgestimmter Gang wie ein Ritual wirkt.

Hans Schabus, Auf der Suche nach der endlosen Säule (LA River), 2005, Courtesy of the artist

Für einige Künstler besitzt das Gehen ein transformatives Potenzial und ist die Voraussetzung für künstlerische Reflexion. Der Begründer der Walking Art, Hamish Fulton versteht das künstlerische Gehen, das sich durch strenge selbst auferlegte Regeln von der alltäglichen Fortbewegung unterscheidet, als eigenständiges ephemeres Kunstwerk. Zugleich ist es seit fast 50 Jahren die Basis seiner „Walk Works“, die unterschiedlichste Medien sowie Texte mit den Fakten seiner Wanderungen umfassen. In der Schirn sind eine Reihe von Arbeiten zu sehen, die vor allem sein gesellschaftskritisches und umweltpolitisches Engagement herausstellen. 

Jan Hostettlers Arbeiten sind Ausdruck der innerlichen Veränderung, die der Künstler 2016 während seiner achtmonatigen Reise zu Fuß von Basel nach Istanbul durchlebte. Auf der Strecke von 3000 Kilometern sammelte er Objekte, die er archivierte oder zurück in seinem Atelier in einem langfristigen Transformationsprozess zu lichtechten Eisenoxid-Pigmenten für das Bemalen von Leinwänden verarbeitete.

Hamish Fulton, 35 Walks Map. Europe. 1971-2019, 2019 © The artist and Galerie Thomas Schulte, Berlin

Bei anderen Arbeiten der Ausstellung ist das Gehen ein wesentliches Element des künstlerischen Produktionsprozesses. Fabian Herkenhoeners Schleifbilder entstehen während des Gehens in einer sich verselbstständigenden Gestaltung anhand von Abreibung und Überlagerung. Leinwände von Arbeiten zieht der Künstler mit der Bildseite nach unten hinter sich her und versenkt sie mitunter anschließend im Fluss. Carole McCourt vereint in ihrer Installation  unterschiedliche Materialien und Medien, die aus dem Sammeln von Erinnerungsstücken, Interviews, Spaziergängen und Experimenten mit natürlichen, organischen Elementen hervorgehen. Andere ihrer Arbeiten entstehen in Zusammenarbeit mit der Natur, indem die Künstlerin Zeichnungen vergräbt, die durch monatelange Witterung Spuren von organischen Materialien oder Zersetzung annehmen.

In ihrer künstlerischen Praxis verwendet Birke Gorm während des Gehens gefundene und gesammelte Objekte als Material, das sie mit geschlechtlich und historisch konnotierten Techniken und deren Ästhetik in ein Verhältnis setzt. Die Arbeit „IOU“ (2021) besteht aus mehreren Ästen, in die sie Gesichter geschnitzt hat. Diese spielen mit Nähe und Vereinigung und sind beim Gang durch die Ausstellung an unterschiedlichen Stellen anzutreffen.

Fabian Herkenhoener, The overly dramatic truth, 2016, Courtesy of the artist

WALK!

18. Februar – 22. Mai 2022

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