Zwei Indi­vi­duen, ein Künst­ler: Die SCHIRN widmet dem bildgewaltigen Universum des gefeierten Künstlerduos eine umfangreiche Retrospektive.

Seit über einem halben Jahrhundert schaffen Gilbert & George gemeinsam Kunst. Ihr herausragendes Œuvre ist bis heute von ungebrochener Brisanz und Bedeutung. Die Schirn widmet dem bildgewaltigen und bisweilen provokativen Universum der exzentrischen Londoner Künstler eine umfangreiche Retrospektive, für die die Künstler ca. 45 ihrer großformatigen Bilder von 1972 bis 2019 ausgewählt haben.

Zwei Individuen, ein Künstler: Seit ihrer ersten Begegnung in der Londoner Saint Martin’s School of Art 1967 stellen Gilbert & George den künstlerischen Kanon und Konventionen schonungslos in Frage. Gleichzeitig Subjekt und Objekt ihrer Arbeit, bilden sie eine vollkommene künstlerische Einheit, die nicht zwischen Kunst und Leben unterscheidet. Als „Living Sculpture“ verkörpern sie ihre Kunst und sind Thema und Gegenstand ihrer großformatigen Collagen und gerasterten Bildwelten. Ihre Bilder folgen keiner ästhetischen, formalistischen oder konzeptuellen Intention – was zählt, ist der Inhalt.

Ihre Kunst fordert das Weltbild heraus

Gilbert & George behandeln in ihrer Kunst die großen existenziellen Fragen. Ihre Kunst kreist um Tod, Hoffnung, Leben, Angst, Sex, Geld, Ethnie und Religion. Es sind auch gesellschaftliche Themen, die sie in ihrer Widersprüchlichkeit zeigen: zugleich fröhlich und tragisch, grotesk und ernst, surreal und symbolisch. Gilbert & George befassen sich mit dem, was beunruhigt. Ihr Ziel ist es dabei nicht zu schockieren, sondern vielmehr unter ihrem Credo „Kunst für alle“ sichtbar zu machen, was sich in der Welt abspielt. Punks und Hipster, Autoritäten und Außenseiter, Schlagzeilen und Werbung – überall mischen sich Gilbert & George ein. Die Kunst fordert das Weltbild heraus und erweist sich darin immer wieder von Neuem als zukunftsweisend.

Gilbert & George, 2015, Foto: Tom Oldham

Als junge Bildhauer etablierten Gilbert & George Ende der 1960er-Jahre ihre künstlerische Vorstellung als „Living Sculpture“. In nahezu perfekt abgestimmten, makellosen Anzügen sind die beiden eine unteilbare Einheit, die sich bedingungslos einem gemeinsamen Leben für die Kunst verschreibt und den Alltag ebenso kreativ wie streng geregelt gestaltet. Mit dieser selbstauferlegten Disziplin, einem Leben, das beinahe ausschließlich zwischen Wohnung und Atelier stattfindet und einfachen, klassenlosen Routinen folgt, haben sie einen Raum für absolute kreative Ungezwungenheit geschaffen. Bekannt wurden Gilbert & George mit ihren „Singing Sculptures“, bei denen sie mit bunt angemalten Gesichtern das Lied „Underneath the Arches“ (1932) über die Obdachlosigkeit in Zeiten der Weltwirtschaftskrise sangen.

Seit über fünf Jahrzehnten leben und arbeiten Gilbert & George im Londoner Stadtviertel Spitalfields und haben dessen Wandel erlebt und dokumentiert. Ihre Wohnung und das Atelier in der Fournier Street sind seit dem Einzug 1968 das Zentrum ihrer Kunst. Zentrale Themen ihrer frühen Bilder sind Trinken und Trunkenheit. Nach zunächst vorrangig privaten Motiven wandten sie sich mit den „Dirty Words Pictures“ (1977) und Bildern wie „Bent Shit Cunt“ und „Queer“ ganz der Stadt zu. Ihre Arbeiten aus den späten 1970er-Jahren zeigen das Porträt eines verwahrlosten London in sozialem Aufruhr. In Bildern wie „Guard Plants“ (1980) oder „Two Patriots“ (1980) tauchen erstmals andere Menschen in ihren Arbeiten auf.

Gilbert & George, QUEER, 1977, Courtesy of Gilbert & George

In den 1980er-Jahren kamen zum Schwarz-Weiß der frühen Jahre zunächst Rot, dann nach und nach weitere Farben hinzu und wurden zu einem tragenden symbolischen wie atmosphärischen Bestandteil der Kunst von Gilbert & George. Ihre Bilder wurden größer und provokanter. Symbolgeladene Motive in grellen Farben stellen gängige Wertvorstellungen zu Sex, Religion und Beziehungen infrage. Dazu zählen u. a. die „1982 Pictures“ (1982/83), eine Serie aus Piktogrammen, von denen die Schirn unter anderem „Sperm Eaters“ und „Tongue Fuck“ präsentiert, sowie die „New Democratic Pictures“ (1991/92).

Symbolgeladene Motive stellen gängige Wertvorstellungen infrage

Mitte der 1990er-Jahre rückten Gilbert & George als Reaktion auf die Aids-Krise ihre nackten Körper, Körperflüssigkeiten wie Blut, Urin und Sperma sowie Exkremente in den Fokus ihrer Kunst. Sie sahen darin den direktesten Ausdruck ihrer selbst und der menschlichen Sterblichkeit. Neben den „Rudimentary Pictures“ (1998) zeigt die Ausstellung auch die „Naked Shit Pictures“ (1994).

Gilbert & George, SPERM EATERS, 1982, Courtesy of Gilbert & George und White Cube

Zentrale wiederkehrende Themen ihrer Kunst sind Religion und Politik, etwa in „Akimbo“ aus den „Sonofagod Pictures“ (2005), das verschiedene Glaubenssymbole zusammenführt. Wenig später widmeten sich Gilbert & George mit einer ihrer umfangreichsten Serien, den „Jack Freak Pictures“ (2008), dem Thema Nationalismus und kombinierten als Grundelement den Union Jack der britischen Flagge.

Gilbert & George richten den Fokus auf blinde Flecken der Gesellschaft

Gilberts & Georges Kunst reflektiert den Wandel und das Leben in London in all seinen Formen. Auf ihren täglichen Spaziergängen durch die Stadt haben die Künstler Tausende von Zeitungsschlagzeilen, Werbeanzeigen, Aufklebern, Schildern, Logos und Parolen gesammelt – Dinge, die von den Menschen hinterlassen wurden und Ausdruck ihrer Lebensbedingungen sind. Aus den urbanen Fundstücken entstanden die „London Pictures“ (2011), die „Scapegoating Pictures“ (2013) oder „Utopian Pictures“ (2014), aus denen die Schirn Bilder wie das monumentale, rund 20 Meter breite Triptychon „Scapegoating“ oder „They Shot Them!“ präsentiert. Mit ihnen richten Gilbert & George erneut den Fokus auf blinde Flecken der Gesellschaft und hinterfragen soziale Tabus und Moralismus.

Gilbert & George, JESUS JACK, 2008, Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, London. Paris. Salzburg
Gilbert & George, THEY SHOT THEM!, 2014, Courtesy of Gilbert & George
THE GREAT EXHIBITION

GILBERT & GEORGE

Frühjahr 2021

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