Kurator Matthias Ulrich traf in Los Angeles eine illustre Runde von Menschen: Doug Aitken, Thomas Demand, Florian Henckel von Donnersmarck und einige mehr. Doch vorher galt es mehrere Hürden zu nehmen.

Nach bereits einem Tag in #Los Angeles wurde mir klar, dass diese Stadt anders ist. Die Wachstumsbranche Sicherheit schlägt an ihrem Flughafen, der auch als LAX bezeichnet wird, mit geschlagenen drei Stunden zu Buche, davon die erste in der Schlange vor der Einwanderungsbehörde stehend und die folgenden zwei in einer überraschenden oder unangekündigten zweiten Personenkontrolle. Ein ins monsterhaft vergrößerter Tausendfüßler bewegte sich durch eine stillgelegte Gepäckabholhalle, als wollte er jeden noch so unbekannten Winkel namentlich begrüßen, und das jeweils vorderste Paar Beine hatte unter Einsatz seiner unmittelbar verwandten Händen nichts weiter zu tun, als noch einmal das Ausweisfoto mit dem realen Gesicht vergleichen zu lassen. Ob es wohl einem gefährlichen Subjekt früher gelungen ist, unter der ersten Kontrolle unbemerkt durchzuschlüpfen? Oder diente die zweite Hürde vielmehr der kulturellen Assimilation und Angewöhnung an die auf Straßen in Los Angeles herrschende Fahrgeschwindigkeit? Beim Abholen des Mietwagen bei Thrifty, wochenendausflugsweit entfernt vom Flughafen, erwirbt der Erstbesucher weitere Kenntnisse in gelungene Effizienzverweigerung und epische Instruktionen in die Bedienung eines selbsterklärenden Navigationsinstruments, die schließlich doch das ubiquitäre Gesetz der Unvollständigkeit zu einem Zeitpunkt zu rehabilitieren wusste, der im Gegenteil zu passend kam.

Das erste Treffen mit dem kalifornischen Künstler #DougAitken in seinem Studio in Venice, das mit großzügigen zweieinhalb Stunden Abstand zu meiner Ankunft gelegt wurde und das schon in der Tausendfüßlerschlange außer Reichweite geriet, fand an diesem Tag daher ohne mich statt. Endlich im Auto lotste mich das Navi durch den hereinbrechenden Abend in eine hippe Wohn- und Shopstraße namens Abbot Kinney, wo in einem Restaurant die Herren Aitken und Hollein bereits an einem Tisch saßen und mich wie die endlich aufgetauchte MH 370 begrüßten. Ein Film von Aitken, in dem die Hollywood-Schauspielerin Chloë Sevigny die zentrale Rolle spielt, handelt von den Flughafennomaden und einer explodierten sozialen Ordnung, einer Gesellschaft, in der man nach Belieben Check-In und Check-Out macht.

Den nächsten Tag beginne ich brutally early um 4:40 Uhr mit dem Plan, mit dem Mietwagen durch die leeren dunklen Straßen zu fahren und frei von Stau und Menschen die Stadt zu erkunden. Leider begegnet mir diese Freiheit bereits in der Hotellobby, wo niemand ist, der das Auto, wo auch immer die Hotelgarage sich befindet, vorfahren könnte. Bis um 7:00 Uhr diskutiere ich den Begriff der Humanskulptur anhand einer kleinen Fotoausstellung im Hotelflur meiner Etage. Bis auf die zwei weißen, aus dem Mund strahlenden U's - eines weniger als im Wort Humanskulptur - des Arnold Schwarzenegger werben die anderen Männer mit relativ ähnlichen, ausgebauten Körpern - und man hätte vielleicht schon in den 1970er Jahren an den Menschenpark denken können. Leider ist das klassische Bodybuilding - nurmehr 1xU - sowas von OUT, dass man nicht mehr lange auf sein Re-Launch warten muss. Gemessen am Geld, das ein solcher Körper verschlingt, sind die Gewinne, die damit eingefahren werden können, noch ziemlich gering. Die ästhetische Seite erscheint mir nach Jahren des Missachtens keine weiteren oder neuen Quellen zu Tage zu fördern.

Der zweite Tag im Studio von Aitken fördert reichlich Material zum Vorschein, um eine Vorauswahl vorzunehmen (während im Hintergrund eine Playlist läuft und Aitken sich freut, seinen Geburtstag am Abend auf einem Konzert von Kraftwerk zu feiern).

Nach der Besprechung folgte wieder die Straße nach Pasadena im Nordosten, wo Dave Muller mit seiner Familie lebt. Diese Siedlung gleicht der Blaupause eines frühen Atari-Computerspiels, wo es darum ging, auf einem Fahrrad fahrend so schnell wie möglich die Tageszeitungen über die Vorgärten hinweg vor die Haustüren zu werfen. In einer ehemaligen Garage hinter dem Haus befindet sich Mullers Atelier. Eine Wand ist von unten bis oben mit in Regalen dicht gestellten LPs verkleidet. Zusätzlich befindet sich auf der Festplatte seines Computers Musik mit einer Datenmenge von 1,7 TB, von der ein erster Band ausgedruckter Musiktitel mit dem Gewicht eines Backsteins vorliegt. Sein enzyklopädisches Interesse erinnert an Umberto Ecos "Unendliche Listen", die das Fragmentarische zur Vollständigkeit antreiben, es wie in den Bilderhängungen der Pariser Salons kreuz und quer auf die Wände applizieren und eine von verrückten Tropen gebaute subjektive Landschaft errichten. Mullers Malerei und Installationen, die stark von Pop und Musik infiziert sind, durchforsten solche Landschaften, um die Deckkraft ihrer sozio-ökonomischen Ebenen oder das Zusammenspiel der realen und der künstlerischen Realität zu diagnostizieren.

Fotografische Souvenirs und sogenannte Selfies

Es folgt die Route zum LACMA. Die Fahrten im Auto gleichen einer situationistischen Performance, bei der die Stadt von der Stimme des Navis und den richtungsgebenden Pfeilen auf seinem Display wie wegradiert erscheint. Ich treffe Max Hollein in dem Cafe vor dem Museum im Gespräch mit dem Direktor des LACMA, Michael Govan, der uns anschließend zu einem schnellen Sammlungsdurchlauf begleitet, auf dem unter anderem ein feurig farbiges Gemälde von Frantisek Kupka Holleins Aufmerksamkeit erregt. Draußen in der erneut einbrechenden Dunkelheit entfaltet ein dichter rechteckiger Raum aus hunderten alter Straßenlampen, den einer der einflussreichsten US-amerikanischen Body-Art-Künstler der 1970er Jahre, Chris Burden, auf dem Vorplatz des Museums errichtet hat, eine für Los Angeles unbekannte, wenn auch absurde Möglichkeit für ein bohemistisches Flanieren. Genau hier aber posen junge Menschen für fotografische Souvenirs und sogenannte Selfies, auf denen das Ich-war-hier im Internet weltweite Verbreitung findet und den Platz, das Museum, seine Kunst auf den Status eines Denkmals hebt.

Im LAMOCA des folgenden Tags erwartet den Besucher eine Ausstellung mit Werken der Sammlung in einer Begegnung von älteren und jüngeren Ankäufen. Wenige Überraschungen demonstrieren die globale Strahlkraft kanonischer internationaler Künstler, wenngleich ihre Gegenüberstellung hie und da starke Akzente zu setzen weiß, beispielsweise eine Videoinstallation des in der aktuellen Ausgabe des "New Yorker" vorgestellten Ryan Trecartin und einem großen Konvolut von Fotografien von Nan Goldin. Während Goldins Fotografien aus dem beschädigten Leben der diskriminierten und an den Rand gedrängten Gay- und Queer-Community berichten, setzen Trecartins Protagonisten auf das Großereignis des digitalen Zeitalters, nämlich die absolute Konnektivität von allen mit allen und allem, das von denselben Randfiguren beherrscht werden wird. Die um noch eine Spur vergrößerte Retrospektive des verstorbenen LA-Stars Mike Kelley schenke ich mir, da ich sie bereits am Beginn ihrer Reise im Stedelijk Museum in Amsterdam gesehen hatte. Gleich gegenüber des LAMOCA lärmt es von der Baustelle der Broad Art Foundation, deren architektonische Sensation noch auf sich warten lässt und von dem kulturellen Noch-Wahrzeichen der von Frank Gehry entworfenen Walt Disney Concert Hall gleich daneben überstrahlt wird.

Florian Henckel von Donnersmarck und die gute Erziehung

Nach einem weiteren Arbeitsgespräch mit Doug Aitken und Team statten wir dem Berlin-Auswanderer Thomas Demand in seinem Studio in der Helms Ave. einen Besuch ab. Das auf den Backsteinbau neben der Tür angebrachte Namensschild hängt schief. Demand kommt leicht verspätet - "traffic!" - in einem sportlichen Mercedes-Oldie angefahren. Drinnen im Studio steht die Kulisse für eine neue Fotografie. Eine kurze Häuserschlucht, an deren Ende ein leuchtend pinker Kirschblütenbaum unter riesigen Fotostudioscheinwerfern steht. Der eindrucksvolle Aufwand, der alleine für die Herstellung der Blütenblätter betrieben worden ist, lässt mich gebannt Thomas Demands Erzählung über den Hintergrund zu diesem Motiv zuhören. Von einem zusätzlichen Nebenprodukt, das wie eine Studie zu dieser Arbeit erscheint, erzählen die an den Wänden des Studios angebrachten Detailaufnahmen der pinkfarbenen Flora, die in einem so extremen Widerspruch zu dem dokumentarischen, in einer amerikanischen Zeitung gefundenen Foto steht, welches Demands Interesse für diese Arbeit überhaupt erst in Bewegung brachte. Nach einer unspektakulären Verfolgungsfahrt durch die Straßen von LA gelangten wir zu unserer Abendverabredung in einem unprätentiösen, aber kulinarisch sensationellen japanischen Restaurant, welches Thomas Demand ausgewählt hat. Entlang des Mottos seines Oscar prämierten Films "Das Leben der Anderen" quetschte, wohlgemerkt in der Manier einer guten Erziehung, Florian Henckel von Donnersmarck Max Hollein aus und wich meiner als Rettungsversuch verstandenen Frage nach seinem neuen Film, ebenfalls sehr galant, aus.

Mein letzter Tag in Los Angeles führt in den Nordwesten der Stadt, wo der Auswanderer Thomas Houseago ein der Größe seiner Skulpturen adäquates Studiogelände bewirtschaftet. Trotzdem gerade zwei monumentale Auftragsarbeiten den Weg in seine Heimat Leeds angetreten haben, um dort mit seinem Landsmann Henry Moore zu duellieren, läuft die Produktion anscheinend auf Hochtouren. Die Hallen weisen jedenfalls kaum Freiflächen auf, und in einer annektiert er gar den Ausstellungsraum, den white cube, um ihm ein skulpturales Museum, ein Museum als Skulptur, entgegenzustellen. Das labyrinthische Gebilde aus derber Materialität hat wie Mondphasen durchlöcherte Fenster und seine Wände sind im doppelten Sinne Form, eine positive Seite und eine negative Seite, die etwa an die Vorlage zur Herstellung einer Bronzeskulptur erinnert. Der mit klassisch zu nennenden Skulpturen schnell bekannt gewordene Brite greift immer wieder auf die Zeichnung zurück, die ihm als Denkraum, als Konstruktionsplan, als Notizblatt dient und die auch wortwörtlich seinen riesenhaften Masken und Menschenskulpturen anhaftet.

Nach drei schaumig geschlagenen Matcha-Tees und einem anregenden Konversationsstrom mache ich mich auf den Weg nach Osten in das zur Abwechslung kleine, im Vergleich zu den anderen, ja, Mini-Atelier der Amerikanerin Lisa Lapinski. Nach den philosophischen Ausflügen jetzt leichtfüßige, phantasiegeladene Ironie. Auf den gefühlten 10qm lehnen an eine Wand auch noch Arbeiten ihres Mannes, Will Fowler. Hinter dem Modell der Berliner Galerie Johann König, wo ihre aktuelle Ausstellung zu sehen ist, hat sie meinetwegen zwei ihrer Bildassemblagen an die Wand gehängt. Endlich lacht mal jemand, auch über sich selbst und darüber, welchen Einfluss ihre Katzen, eine heißt Broodthaers, auf die Ideenfindung haben, wie sie das bunte Kerzenwachs zwischen die Lamellen der zum Fächer gebogenen Jalousien tropfen ließ und in der Dunkelheit dabei Goethes Farbenlehre las. Dann bringt sie mich zu ihrem Lieblingsmexikaner, wo es die besten Tacos der Stadt gibt. Nach dem Imbiss macht sie sich auf zur Schule ihres Kindes, während ich zum UCLA Hammer Museum zu meiner nächsten Verabredung mit Andrea Fraser durch den dichten Verkehr der dämmernden Stadt cruise.

Zu viel, um einen Überblick zu gewinnen

Im Parkhaus des Hammer Museums werde ich mit den Worten begrüßt, den billigsten Parkplatz in der ganzen Stadt gefunden zu haben, nämlich 3 Dollar für 3 Stunden. Ich überlege beim Passieren der Schranke, ob die knapp 40 Dollar, die ich zuvor für eineinhalb Stunden im Parkhaus des LAMOCA zahlen musste, schon die Obergrenze gewesen ist. Mit Andrea Fraser renne ich durch die Ausstellung "Take it or leave it: Institution, Image, Ideology", wo dicht gedrängt auch zwei ihrer Arbeiten ausgestellt sind. Wir reden derweil über ihre Beteiligung in meiner kommenden Ausstellung "Unendlicher Spaß", sodass ich nur en passant aufnehme, was diese Ausstellung zu bieten hat. Jedenfalls zu viel, um im gewohnten Schritt des Kurators einen Überblick zu gewinnen. Auch eine Installation von Stephen Prina befindet sich darunter, der in wenigen Minuten im angeschlossenen Billy Wilder Theater einen Film zeigen und ein Konzert geben wird. Prinas Film "Vinyl II" ist eine Auseinandersetzung mit einer Residency im Getty Museum und zeigt eine von live gespielter Kammermusik begleitete, langsame Kamerafahrt durch zwei Galerieräume mit barocken Gemälden. Mein Abschluss des LA-Trips verbindet sich irgendwie magisch mit dem Anfang, der nämlich mit einem Besuch des Getty Research Departments begonnen hat, in dieser Erzählung aber verloren gegangen scheint.