Matthias Ulrich erlebt die Ausstellungseröffnung von „Secret Societies“ zum zweiten Mal. Er fährt Bordeaux mit dem Leihfahrrad ab und landet schließlich in der Schule.

Bordeaux liegt am Meer. Aber doch zu weit davon entfernt, um eben mal kurz hinzufahren. Zumal ich nur drei Tage in dieser Stadt bin, interessieren mich vor allem die urbanen Strukturen, die sehenswerten Gebäude, die Radfahrtauglichkeit, die Fußgängerzone und natürlich die Orte der Kunst. Ein solcher war auch Anlass meiner Reise. Das CAPC, wie das Museum für zeitgenössische Kunst in Bordeaux heißt, ist die zweite Station der zuvor in der SCHIRN gezeigten Ausstellung „Secret Societies" und der dauerhafte Arbeitsplatz von Co-Kurator Alexis Vaillant. Zusammen mit Cristina Ricupero, die gerade rechtzeitig von einer Recherche für ein kommendes Projekt aus Korea eintraf, entschied er sich zu meiner Überraschung für das Ausstellungsdesign, das in Frankfurt noch auf energische Ablehnung stieß: Das Geheimnis als dunkler Ort.

PER FAHRRAD AUF DER SUCHE

Es machte den Eindruck, als sei das ganze Haus mit Energiesparlampen illuminiert, so dass selbst zur Abenddämmerung der Schritt durch den Ausgang wie ein Blitz in die Augen schoss. Keine Frage, die veränderte Raumsituation erfordert eine andere szenografische Herangehensweise. Die Ausstellung, die im langen, schlauchförmigen Raum der Schirn durch eine kongeniale Ausstellungsarchitektur des Schweizers Fabian Marti rhythmisiert war, ist dort über viele kleine Räume und auf zwei Etagen verteilt. In der unteren Etage überwogen die schwarzen Arbeiten, an oder vor schwarzen Wänden, von oben einzeln angestrahlt, die einzelnen Räume jeweils durch dreieckige Türöffnungen betretbar. Im oberen Stock herrschte ein mehr oder weniger weißer Anstrich, der mit einem frisch in die Sammlung geratenen, neon-pinken Vorhang von Heimo Zobernig optisch vorbereitet wurde.

In der großen Halle des ehemaligen Handelshauses, das zu Kolonialzeiten eine wichtige Stelle auf der ökonomischen Landkarte Frankreichs markierte, präsentierte sich zudem das Van Abbe Museum mit einer kleinen Auswahl ihrer Sammlung, die der Arte Povera-Künstler Michelangelo Pistoletto im Rahmen des stadtumfassenden Biennale-Projekts „Evento 2011″ zusammenstellte. Ich machte mich per Fahrrad -- die für einen Euro pro Tag an öffentlichen Stationen ausgeliehen werden können -- auf die Suche nach den weiteren Evento-Spots.

DIE JUGENDKULTUR IM DÖRFLICHEN KAMERUN

Das Musée d'Aquitain, ähnliches im Angebot wie das Liebieghaus und das Museum für Weltkulturen zusammen, kommt schon ohne den Einsatz zeitgenössischer Kunst dem Leitmotiv der diesjährigen Ausgabe von Evento sehr nahe, Kunst als Schnittstelle für soziale und verantwortliche urbane Veränderung zu nutzen.

Eine Installation wie die von William Kentridge, in der er eigene Arbeiten mit Artefakten aus der Sammlung Marcel Chatillon kombiniert, bringt nicht nur koloniale Wirklichkeit auf den Punkt, sondern visualisiert einen künstlerischen Prozess, der von der Idee bis zur Materialisierung auf rekursiven Wegen verläuft. Es werden Recherchen über Geschichte und Technologie in Vitrinen ausgebreitet, in einem Teppich verwoben, von den bekannten Scherenschnitten in bewegte Bilder übertragen und dabei alles miteinander verbunden, um historische Kausalität zu verhindern und Affekte zu erzeugen

Insgesamt konnten in diesem Museum etwa 12 Arbeiten von Evento-Künstler/innen gesehen werden, darunter Filme von Wael Shawky und Michael Blum, ein Sound-Piece von Shilpa Gupta. Und eine bemerkenswerte Installation des französischen Künstlers Pascale Marthin Tayou, der in einem Raum metallene Skelette aus Diamanten von der Decke herabhängen lässt, die wie von Giacometti-artigen, riesenhaften Holzfiguren bodenständig bewacht werden, während an den Wänden Bildtapeten über die Jugendkultur im dörflichen Kamerun oder sonstwo berichten.

Oben auf der den Raum umarmenden Empore sind nach geröstetem Kaffee und Schokolade duftende, mit billigen Souvenirs eingekleidete oder behängte Glasfiguren sowie anderer Kolonialchic schaufensterartig inszeniert. Die weit auseinander liegenden ästhetischen Epochen wirken in der Installation von Tayou merkwürdig verwickelt und kondensiert, fast schon synthetisiert, und doch klar unterscheidbar, mit einem ironischen Blick auf beide Seiten der Zeitachse.

SHOPPING-AFFIN DURCH DIE FUSSGÄNGERZON

Nach einer längeren Fahrt entlang des Flusses Richtung Norden, vorbei an belebten Plätzen und Shopping-Malls, erreiche ich, jetzt im Doppel mit der Österreicherin Eva Grubinger, in einem ehemaligen Industriegebäude die über ganz Frankreich aufgeteilte FRAC-Institution, hier genannt FRAC Aquitaine.

Eine luftige, leise atmende, dem Wind und dem Meer gewidmete Schau begrüßt den Besucher mit aus langen Grashalmen gewickelten, fingergroßen Segelbötchen der Engländerin Bethan Huws, schreibt sich weiter mit einem log- oder fahrtenbuchartigen Tableau der Susan Hiller, zeigt an einer Wand von unten bis oben reichende, überwiegend leuchtend bunte, energisch hingemalte Leinwände von Marc Camille Chaimowicz, passiert an irgendeiner Stelle Marcel Broadthaers' „Voyage en mer du Nord", um schließlich am Ausgang zu landen. Hatte nichts mit Evento zu tun.

Ach ja, die Eröffnung von „Societés Sécrètes". Pressemäßig ist man hier schon einen Schritt weiter oder jedenfalls woanders. Zur Pressekonferenz mit geladenen 50 Protagonisten verschiedener Printmedien nationaler und internationaler Couleurs wird zuerst am großen Tisch zu Mittag gegessen -- ein Glas Bordeaux gefällig? -- um anschließend, geführt von den Kuratoren, durch die Ausstellung zu flanieren. Abends, wie gewohnt, nur ohne Rede, die öffentliche Vernissage, zu der erstaunlich viel junges Publikum gekommen war, das ich zuvor nur shopping-affin durch die Fußgängerzone ziehen sah. Einen zumindest kleinen Koffer habe ich, vermutlich in der École du Vin de Bordeaux, zurückgelassen.