Absinth, Urin, Aphrodisiaka: Jennifer West bearbeitet ihre Filme direkt – mit allen erdenklichen Mitteln. Die amerikanische Künstlerin über ihr Konzept der Marinierung, soziale Interaktion und das Schmecken von Filmen.

Wie hast Du angefangen, kameralos zu arbeiten?
2003, gegen Ende meines Aufbaustudiums am Art Center, wo ich Kurse bei Diana Thater, Mike Kelley und Patti Podesta besuchte, hängte ich in meinem Atelier eine Karte an die Wand, auf der stand: „Die Filmdose, die ich über 10 Jahre im Kühlschrank hatte“. Diese Dose mit 16-mm-Negativfilm hatte über 10 Jahre lang und in vier verschiedenen Städten in meinem Kühlschrank gelegen: in Seattle, San Francisco, Tacoma und Los Angeles. Im Laufe dieses Prozesses war der Film gealtert. 2004 entwickelte ich den Film, ohne etwas aufgenommen oder ihn belichtet zu haben. Anschließend gab ich ein paar Freunden und Kollegen rund 9 m lange Teilstücke des entwickelten Films und bat sie, den Film in einem Gebräu ihrer Wahl zu „marinieren“. Ich erhielt die Filmstücke in Plastikbehältern in ihrer jeweiligen „Marinade“ zurück, zum Beispiel Urin von Jim Shaw, eine Mischung aus Pepsi und Poprocks, Badesalz, Haarfärbemittel, Blaubeeren, Henna, Eiscreme, Smog- und Feinstaubpartikel und anderes mehr. Außerdem setzte ich selbst zwei „Marinaden“ an, für die ich Zutaten wie Aphrodisiaka, Energydrinks und Parfüm verwendete. Zutaten, die mich dazu anregten, Filme zu spezifischen Themen zu machen. Inzwischen sind es insgesamt 57 Filme, die seit 2005 entstanden sind.

Jennifer West, „A 70 mm film wearing thick heavy black liquid eyeliner that gets smeary“, 2008

Was bringt Dich dazu, bestimmte Substanzen zu verwenden?

Filme beginnen immer mit einem bestimmten Konzept. Das ist das Wichtigste in meinem Werk und entscheidend für die Assoziationen, die sich aus den textbasierten Titeln und dem entstandenen Film ergeben. Diese Konzepte haben ihre Wurzeln in Bewegungen der Subkultur, in urbanen Legenden, Folklore, Geschichte, Dingen, die ich sehe, lese oder höre, Düften, Lebensmitteln, Filmen, Büchern, Musik, Fernsehen oder Kunstwerken. Manchmal beginnt ein Film mit nichts weiter als dem Material – sagen wir zum Beispiel „Klapperschlangengift“ –, und ich entwickle einen Film, der sich speziell mit diesem Material oder dieser Substanz auseinandersetzt. Manchmal entwickelt sich ein Film aus einem früheren Film, wie bei „Regressive Squirty Sauce Film“ (2007). Mich interessierte unser kulturelles und psychologisches Verhältnis zu Geschmack und zum Essen, und so entstand mein „Comfort Food Film“, für den ich Filmsegmente in verschiedene Arten von „Trost-Essen“ einlegte, also einfache Lebensmittel, die Kindheitserinnerungen wecken, wie Kartoffelbrei, Guacamole, Apfelmus und Ketchup, Senf oder Würzsaucen.

Der aus der Flasche spritzende Ketchup oder Senf erinnerte mich an Körperflüssigkeiten, und ich musste daran denken, wie der Künstler Paul McCarthy aus L. A. Schokolade und Ketchup zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Ich beschloss, diesen Materialien meinen eigenen Stempel aufzudrücken, indem ich Apfelmus, Mayonnaise und Senf dazunahm und bestimmte Erwartungen in Bezug auf Geschlechterrollen bei Künstlern gegeneinander ausspielte. Ich wollte herausfinden, wie es aussieht, wenn eine Frau mit diesen Materialien arbeitet, die so oft mit Männern assoziiert werden. Dieser Film steht, ebenso wie andere meiner Filme, für eines meiner zentralen Interessen: Die Filme werden mit unästhetischen, klebrigen, schmutzigen Saucen und Lebensmitteln verschmiert, dann wieder sauber gemacht und digital präsentiert – komplett losgelöst von ihrem ursprünglichen, extrem physischen Herstellungsprozess. Dabei sind die „schmutzigen“ Ursprünge dieser Filme in ihren Titeln aufgelistet und lassen den Betrachtern Raum für Assoziationen.

Kannst Du voraussehen, wie eine spezifische „Zutat“ den Filmstreifen beeinflussen wird?
Am Anfang war vieles Zufall, und ich arbeite nach wie vor auch mit Substanzen und Prozessen, die absolut keine Auswirkung auf die Filmemulsion haben, wenn sie zum Konzept des jeweiligen Films gehören. Sie werden eingesetzt, ob man sie im Endeffekt sehen kann oder nicht. Mit der Zeit habe ich gelernt, auf welche Weise die verschiedenen Substanzen und Prozesse das Zelluloid des Films chemisch beeinflussen.

Wie wichtig ist der Akt der Performance?
Performance war immer ein wichtiger Aspekt meiner Filmserien. Manchmal sind die Stills von der Produktion des Films faszinierender als der fertige Film. Mein „Jam Licking Sledgehammered Film“ (2008) wirkt ein bisschen wie ein durch Lecken entstandener Sonnenuntergang. Ich hatte all diese Menschen mit freiem Oberkörper oder im BH versammelt, die gemeinsam Marmelade, Gelee und Orangenmarmelade [vom Filmträger] ableckten. Und so wurde die aufwendige Produktion selbst zur „Geschichte“ oder zum „flüchtigen Dokument“, deren Dreh- und Angelpunkt der Film ist. Dies brachte mich letztendlich dazu, meine erste öffentliche Performance, „Skate the Sky“ (2009), zu realisieren. Der Film entstand als Live- Performance in der Turbinenhalle der Tate Modern. Hierfür hatte ich Filmstreifen auf die Rampe der Halle geklebt und eine Gruppe von Skateboardern eingeladen, die über die Filmstreifen fahren und ihre Skateboardtricks machen sollten, wobei die Filmemulsion abgeschliffen und der Film sichtbar abgestoßen und zerkratzt wurde.

Jennifer West, „Regressive Squirty Sauce Film“, 2007

In der Geschichte des direkt bearbeiteten Films spielt Musik eine große Rolle. Einige Deiner Filme befassen sich ja mit bekannten Helden der Musikszene (Nirvana, Jim Morrison, Led Zeppelin) – wie kommt es also, dass keiner Deiner Filme einen Soundtrack hat?
Es ist mir wichtig, auch meinen „Riot Grrrl Film“ (2008) mit in diese Gruppe hineinzunehmen. Mein Ansatz bei Musikfilmen ist synästhetisch – ich nutze einen meiner Sinne, um einen anderen anzusprechen. Die am weitesten verbreitete Form von Synästhesie ist das Erzeugen von Klängen durch Farben. Alle meine Musikfilme enthalten Farben, die durch Lebensmittel, Substanzen oder Handlungen erzeugt wurden, die in den Songtexten vorkommen. Bei diesen Filmen ist es mir lieber, die Musik durch Farben zu vermitteln. (Nirvana: Bleiche, Pennyroyal Tea, Säureblocker, Abführmittel, Lithium, etc.; bei Led Zeppelin: Custard Pie, Mandarinen, Blumen, Wein etc.; und für die Riot Grrrls: Zimtbrötchen, Schokoriegel, Erdbeeren, jede Form von Süßigkeit). Als ich Studierenden der USC Cinema School einige meiner Musikfilme zeigte, sagte eine Studentin, sie könne die Musik „hören“. Das ist genau das, was ich erreichen will – etwas, das beim Betrachter zwischen dem „Lesen“ der Filmtitel und dem Anschauen der Filme passiert. Bei anderen Filmen arbeite ich genauso mit Assoziationen, nutze aber auch andere Sinneserfahrungen wie den Tast und Geruchssinn.
Das Gespräch mit Jennifer West führte Heide Häusler.

Mehr zu Ausstellung „Zelluloid. Film ohne Kamera“ auf der Website der SCHIRN

Kurzfilm zu Jennifer West