DIGITORIAL® ZUR AUSSTELLUNG: CHAGALL. WELT IN AUFRUHR

Intro

Mit Marc Chagall zum anderen Ende der Farben Im Angesicht dramatischer Ereignisse verändert Marc Chagall den Ton und die Themen seiner Kunst.
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CHAGALL. WELT IN AUFRUHR

Um sie herum, 1945, Detail Um sie herum, 1945, Detail

Zum anderen Ende der Farben

In Marc Chagalls Werk scheinen der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Er gilt als einer der eigenwilligsten Künstler der Moderne. Farbenfroh. Ausdrucksvoll. Brillant. In den 1930er- und 1940er-Jahren verdunkelt sich seine Palette. Die Erfahrung von Vertreibung und Verfolgung spiegelt sich fortan in neuen Themen wider – Motive und Momente des Glücks bleiben aber auch weiterhin Teil seines Werks.

WITEBSK

WITEBSK

Witebsk, die Heimatstadt Chagalls, prägt seine Bildwelt in markanten Leitmotiven − durch alle Schaffensperioden hindurch.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert war Witebsk nicht zuletzt aufgrund seiner vorteilhaften Lage am Zusammenfluss zweier Flüsse eine pulsierende Stadt mit über 66.000 Bewohnerinnen und Bewohnern. Die jüdische Bevölkerung stellte die Hälfte der Einwohnerschaft. Marc Chagall, 1887 in einer jüdischen Familie geboren, verbringt hier Kindheit und Jugend. Von der jüdischen Kultur Witebsks wird er nachhaltig geprägt.

Die Heimatstadt Witebsk wird zu Chagalls Leitmotiv

Obwohl der Künstler mit 33 Jahren seine Heimatstadt für immer verlässt, stellt er zeitlebens Motive dar, die der Witebsker Umgebung entstammen. Kleine Holzhäuser, schiefe Zäune sowie die orthodoxe Kirche mit der großen Kuppel gehen in einen bildnerischen Fundus von Erinnerungen ein, auf den Chagall immer wieder zurückgreift.

„Warum male ich immer Witebsk? Mit diesen Bildern schaffe ich mir […] meine eigene Heimat.“

Marc Chagall

Erfahren Sie mehr über Witebsk und das Leben in der Schtetl-Gemeinschaft

Heute in Belarus liegend, befand sich Witebsk Ende des 19. Jahrhunderts im sogenannten Ansiedlungsrayon; auf dieses Gebiet im europäischen Westen des Russischen Kaiserreiches war das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung beschränkt. Zwischen Synagoge, Ofenbank und Geschäft spielte sich, wie Chagall in seiner Autobiografie „Ma vie“ („Mein Leben“) beschreibt, „das beschauliche Dasein“ in seiner Heimatstadt ab. Stark geprägt durch die osteuropäische jüdische Kultur, zeigte Witebsk die typischen Züge eines „Schtetl“. Diese besondere Siedlungsart war charakteristisch für die Lebensweise osteuropäischer Jüdinnen und Juden vor dem Zweiten Weltkrieg, in der Familie und Tradition zentrale Bedeutung hatten. Die meistgesprochene Sprache der Schtetl war Jiddisch, und die lokalen Gemeinden prägte eine weit verbreitete religiöse Bewegung: der Chassidismus. Diese geistige Ausprägung des Judentums kennt keine Trennung zwischen Weltlichem und Religiösem − Gott wird als allgegenwärtig betrachtet. Auch Familienmitglieder Chagalls sind Chassiden. Die Kultur der Schtetl-Gemeinschaft und die Traditionen seines Elternhauses behalten zeit seines Lebens prägenden Einfluss auf die Bildwelt Chagalls.

Das in Dunkelheit liegende Witebsk wird von einer brennenden Kerze beleuchtet. Dieser gelingt es jedoch nicht, die Finsternis vollständig zu erhellen. Die Stadtdarstellung trifft in dieser traumartigen Szene auf geflügelte Gestalten, Fabelwesen und auf eine Frauenfigur mit Kind im Arm. Letztere ruft Assoziationen mit der Madonna, aber auch mit einer Braut hervor, die vom Bräutigam auf die Stirn geküsst wird.

1915 heiratet Marc Chagall seine Verlobte Bella Rosenfeld, die ebenfalls aus Witebsk stammt. Immer wieder verarbeitet der Künstler Erinnerungen an ihre Hochzeit in seinen Werken. In dem Werk „Die Dorfmadonna“, das vor und während des Zweiten Weltkrieges entsteht, vermischen sich Motive der Erinnerung mit der Sorge Chagalls um die Zukunft seiner Heimat. Im Zusammenhang damit greift der Künstler neben strahlendem Weiß sowie leuchtendem Gelb zu düsteren Farben, um seine Geburtsstadt darzustellen.

Die Dorfmadonna, 1938−1942

Witebsk in leuchtenden Farben: Erfahren Sie mehr über die Bildsprache Chagalls in den 1910er-Jahren

Chagall, der in privaten Kunstschulen in Witebsk und St. Petersburg ausgebildet wird, reist 1911 zum ersten Mal nach Paris, um sein Kunststudium dort fortzusetzen. Die französische Hauptstadt – ein künstlerischer Schmelztiegel – liefert dem jungen Maler eine breite Palette an formalen und stilistischen Möglichkeiten. Hier greift er Einflüsse moderner Kunstströmungen auf und experimentiert unter anderem mit dem kubistischen Prinzip der Formzerlegung. Die Bildstruktur von „Ich und das Dorf“ zeigt von einem zentralen Punkt aus aufgegliedert vier Sektoren. In diesen stehen sich Mensch und Tier, die Natur in Form eines Baumes und die Zivilisation als Dorf gegenüber. Dem Künstler gelingt es hier, die kubistische Simultanität von Motiven mit Erinnerungen an Witebsk zu überblenden. Die Verbindung von Realem und Fantastischem, Vergangenheit und Gegenwart sowie eine helle, leuchtende Farbpalette werden in dieser Zeit charakteristisch für seine Bildsprache.

Ich und das Dorf, 1911

PARIS

PARIS

Im Jahr 1922 verlässt Marc Chagall das postrevolutionäre Russland endgültig. Gemeinsam mit Bella Chagall und der Tochter Ida lässt sich der Künstler nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin, 1923 in der französischen Hauptstadt nieder.

Anfangs begeistert von der russischen Revolution, gelangt Chagall schnell zur Erkenntnis, dass kommunistische Bildpropaganda mit künstlerischer Freiheit und individualistischer Formgebung nichts gemein haben kann. Dies bestärkt den Künstler in der Entscheidung, seine Heimat zu verlassen.

In Paris beginnt eine produktive Schaffensphase

Chagall bemüht sich darum, sich in der französischen Kunstszene zu etablieren. Dabei strebt er an, als internationaler Künstler wahrgenommen zu werden, der auch den Geschmack des französischen Publikums trifft. Dennoch fühlt sich der Maler nicht zugehörig. Hintergrund für Chagalls Empfindung sind unter anderem die Diskussionen, die seine Beauftragung durch den einflussreichen Kunsthändler Ambroise Vollard für die Illustrationen von Jean de La Fontaines „Fabeln“ hervorruft. Dass ein russischer Jude beauftragt wurde, den „urfranzösischen“ Dichter zu illustrieren, löst einen Skandal aus. Nicht nur die Anfeindungen der Presse sind für Chagall Anlass, über seine Identität als russisch-jüdischer Künstler in Frankreich nachzudenken. Auch durch Vollards Folgeauftrag für die Bibel-Illustrationen wird sich der Maler verstärkt mit jüdischen Themen und seiner eigenen jüdischen Herkunft beschäftigen.

Der schwarze Handschuh, 1923−1948

Nahaufnahme: Der schwarze Handschuh

In vielen Werken verarbeitet Chagall seine Erinnerungen an Witebsk oder nimmt Bezug auf frühere Arbeiten wie ein Bildnis von Bella mit schwarzen Handschuhen und einem Buch aus dem Jahr 1909. Als Verweis auf dieses Porträt bildet der Maler einen schwarzen Handschuh und ein Buch auf jenem Gemälde ab, an dem er in seinem ersten Jahr in Paris zu arbeiten beginnt und das er vier Jahre nach dem Tod seiner Frau überarbeitet.

Wie ein zweiköpfiges Wesen miteinander vereint, beobachten Marc und Bella Chagall ihre Umgebung aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Der Künstler schaut zur Leinwand mit der Darstellung einer Uhr. Bella berührt das Ziffernblatt dieser Uhr, wendet sich aber zugleich einer Szene im Hintergrund zu.

Der junge Marc Chagall tritt aus einem Witebsker Haus auf die Straße. Den Blumenstrauß in seiner Hand reicht er einer schwebenden Bella im zitronenfarbenen Kleid mit Brautschleier hinauf.

Ein Hahn lehnt sich zum Kopf des Künstlers. Der Hühnerhof gehört zu Chagalls Kindheitserinnerungen. Seine Auseinandersetzung mit dem mythologischen Feuervogel Mitte der 1940er-Jahre verleiht dem Motiv neue Aktualität. Der Hahn verkörpert in religiösen Riten verschiedener Völker die Kräfte der Sonne und des Feuers.

1933 kommt Adolf Hitler in Deutschland zur Macht. In demselben Jahr verbrennen die Nationalsozialisten Werke von Chagall und anderen modernen Künstlerinnen und Künstlern. Angesichts der politischen Ereignisse bemüht sich Chagall um die französische Staatsbürgerschaft, die er trotz erheblicher Schwierigkeiten nach zwei Ablehnungen erst 1937 bewilligt bekommt. Während der Zeit der Entstehung des Gemäldes „Bonjour Paris“ erlässt das französische Vichy-Regime, ähnlich wie das NS-Regime in Deutschland, antijüdische Gesetze, die unter anderem den in Frankreich lebenden Jüdinnen und Juden die Staatsbürgerschaft aberkennen.

Chagall erweckt die französische Metropole zum Leben: Während am mitternachtsblauen Himmel ein Liebespaar noch Zärtlichkeiten austauscht, weckt im Mittelgrund der Hahn den Eiffelturm aus dem Schlaf, um den neuen Tag zu begrüßen. Die Darstellung der Liebenden ruft dabei Assoziationen mit dem Künstler und seiner Frau hervor. Mit der Stadt Paris und dem Eiffelturm, ihrem Wahrzeichen, verbindet Chagall die Idee der Freiheit, auch wenn diese von den aktuellen politischen Ereignissen überschattet wird.

Bonjour Paris, 1939−1942

„[…] meine Kunst brauchte Paris so nötig wie ein Baum das Wasser.“

Marc Chagall

Erfahren Sie mehr zu nationalistischen Strömungen in Europa im frühen 20. Jahrhundert

Ausgehend von der nach dem Ersten Weltkrieg international einsetzenden Krisenzeit, entwickelten sich in vielen europäischen Ländern nationalistische Strömungen, die von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus gekennzeichnet sind – stets gestützt auf eine Ideologie der Überlegenheit der jeweils eigenen Nation. Die meisten dieser Strömungen fußen auf der Idee des Nationalstaats, im Zuge eines expandierenden Kolonialismus wird diese auch jenseits des eigenen Staatsgebiets durchgesetzt. In nicht wenigen Ländern – aber beispielsweise nicht in Frankreich oder Großbritannien – münden diese Tendenzen schließlich in Diktaturen oder totalitäre Staatsformen. Der italienische Faschismus unter Benito Mussolini begann 1919 als politische Strömung und hatte sich 1925 zu einer Diktatur entwickelt, die Gewalt und Terror auch gegen die eigene Bevölkerung einsetzte. In Spanien regierte Francisco Franco von 1935 bis 1975 als Diktator. Die gravierendsten Ausmaße nahm jedoch der Nationalsozialismus in Deutschland unter Adolf Hitler an, der von 1933 bis 1945 währte und zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte. Auswirkungen solcher Totalitarismen strahlten global aus und halten als politische Strömungen auch bis in die Gegenwart an – obwohl die jeweiligen Regime beendet sind.

Mit dem Vormarsch faschistischer und autoritärer Regime in vielen Ländern Europas Anfang der 1930er-Jahre verändern sich der Ton und die Themen von Chagalls Gemälden.

Chagalls Werke drücken ein Unbehagen am Zeitgeschehen aus

Die Werke werden gedämpfter und düsterer in der Farbigkeit und bringen ein Unbehagen am Zeitgeschehen zum Ausdruck. Dabei geht es dem Künstler nicht nur um die Verarbeitung persönlicher Erlebnisse, sondern auch um die Frage, wie mithilfe individueller Erfahrungen existenzielle Themen ins Bild gebracht werden können.

Die vom tiefen Blau des Himmels dominierte Zeichnung strahlt eine melancholisch-trübe Stimmung aus. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 zieht Chagall in Richtung Süden und 1940 nach Gordes in die noch nicht von der deutschen Wehrmacht besetzte Provence. Inspiriert von der Natur Frankreichs, stellt der Künstler eine dörfliche Landschaft in verschiedenen Grüntönen dar. Zu sehen sind außerdem auch eine Petroleumlampe und eine Wanduhr.

Diese Elemente entstammen ebenfalls den Kindheitserinnerungen des Künstlers: Im Wohnzimmer von Chagalls Eltern gab es eine Pendeluhr, vor der er sich als Kind fürchtete. Zugleich deutet die Wanduhr, ihren eigenen Lauf bestimmend, auf das unaufhaltsame Vergehen von Zeit hin.

Der Traum, 1938/39

„Hört der Uhrmacher, dass das Herz einer Uhr zu schwach klopft, beugt er sich […] über sie […] und haucht ihr seinen eigenen Atem ins Ohr hinein.“

Bella Chagall

Die Vorstellung von der eigenen Kultur und Heimat, die existentiell bedroht sind, sowie der Versuch diese künstlerisch festzuhalten und zu bewahren sind prägend für die Werke Marc Chagalls. Seine Arbeiten fordern die Betrachterinnen und Betrachter zur Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen, aber auch mit dem Zeitgeschehen auf und nehmen Fragen nach Identität, Erinnerung, Flucht und Migration in den Blick. Wir haben vier Personen gefragt, ob Sie ihre Gedanken zu Werken des Künstlers sowie zu dem Begriff „Heimat“ mit uns teilen wollen.

Michel Bergmann, Autor

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Heimat ist für mich vor allem ein Gefühl

Viktoriia von Rosen, Deutsch-Ukrainische Gesellschaft für Wirtschaft und Wissenschaft e.V.

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Chagall ist seiner Herkunft in Witebsk treu geblieben

Yan Varashkevich, Über den Tellerrand Frankfurt e.V.

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Es ist nicht so einfach ein Ausländer zu sein

Vivien Hashemi, Afghanischer Frauenverein Zan e.V.

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Ich glaube, dass man immer einen Teil von sich zurücklässt, wenn man fliehen muss

PALÄSTINA

Unsichtbarer Titel

Drei ganze Monate reist Marc Chagall 1931 durch das britische Mandatsgebiet Palästina und zu den religiösen Stätten. Ambroise Vollard hat ihn beauftragt, das Alte Testament zu illustrieren. Außerdem nimmt er auf Einladung des Bürgermeisters und Stadtgründers von Tel Aviv an der Grundsteinlegung des Museums für jüdische Kunst teil.

Bereits vor seiner Reise fertigt der Künstler erste Gouachen als Grundlage für die späteren Druckgrafiken an. Vor Ort entstanden viele Zeichnungen und Gemälde, die sich durch einen in seinem Oeuvre ungewöhnlichen, fast dokumentarischen Charakter auszeichnen. Seine Motive konzentrieren sich auf die Darstellung heiliger jüdischer Stätten. Die aktuelle Lebenswelt in Palästina wie auch die arabische oder christliche Bevölkerung vor Ort hält er nicht in seinen Arbeiten fest.

September 1939: Invasion der Wehrmacht in Polen

Der Fokus auf jüdische Kultur lässt sich auch mit der zunehmenden Bedrohung jüdischen Lebens und jüdischer Identität erklären. Auch Chagall wurde schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten aufgrund seiner Glaubenszugehörigkeit ausgegrenzt und seine Kunst dadurch negativ bewertet. 1939 kommt das Illustrations-Projekt zum Stillstand, als der Auftraggeber Vollard verstirbt. Einen Monat später überfällt die deutsche Wehrmacht Polen — der Zweite Weltkrieg beginnt. Die Publikation wurde später erst vollendet und erscheint schließlich 1956.

Moses breitet die Finsternis aus, 1931

In christlicher Bildtradition zeigt Chagall Moses als bärtigen alten Mann mit Hörnern. Dieser breitet soeben die neunte Plage über Ägypten und dessen Bevölkerung aus, um den Pharao zur Freilassung der Israelitinnen und Israeliten zu bewegen.

Das Opfer Abrahams, 1931

Chagall stellt den Schlüsselmoment der biblischen Erzählung dar: Der von Gott geschickte Engel hindert Abraham im letzten Moment daran, seinen Sohn Isaak als Zeichen seines Gehorsams zu opfern.

Moses empfängt die Gesetzestafeln, 1931

Dunkle Töne dominieren die nahezu abstrakte Gestaltung. Fast kindlich-naiv wirkt es hingegen, wie Gottes Hände aus einer Wolke Moses auf dem Berg Sinai die beiden Tafeln mit den Zehn Geboten übergeben.

Die Segnung von Ephraim und Manasse, 1931

Der greise Patriarch Jakob segnet auf dem Sterbebett seine beiden Enkel im Beisein seines Sohnes Josef. Dabei wird entgegen der Tradition des Stammes Manasse der jüngere der beiden Brüder bevorzugt.

In christlicher Bildtradition zeigt Chagall Moses als bärtigen alten Mann mit Hörnern. Dieser breitet soeben die neunte Plage über Ägypten und dessen Bevölkerung aus, um den Pharao zur Freilassung der Israelitinnen und Israeliten zu bewegen.

„Seit meiner frühen Jugend war ich von der Bibel fasziniert […] die größte Quelle der Dichtung aller Zeiten.“

Marc Chagall

Orte des Glaubens

Auf seiner Reise dokumentiert Chagall in Gouacheskizzen zahlreiche Schauplätze in und um Jerusalem, die im Alten Testament erwähnt werden und die für die verschiedenen in Palästina ansässigen Glaubensgemeinschaften jeweils von herausragender Bedeutung sind.

Diese Arbeiten Chagalls unterscheiden sich durch ihren naturalistischen, nahezu dokumentarischen Charakter von den typischen traumartigen Werken des Künstlers. Das Gemälde „Die Klagemauer“ zeigt unverkennbar den für das Judentum bedeutenden Ort in der Jerusalemer Altstadt.

Die Klagemauer, 1932

Erfahren Sie mehr zum Heiligen Land nach dem Ersten Weltkrieg

Als Chagall Palästina besucht, besteht diese regionale Einheit noch nicht lange. Zum Ende des Ersten Weltkriegs hatten die Briten dieses Gebiet erobert, das jahrhundertelang Teil des Osmanischen Reichs gewesen war. Die militärische Herrschaft über Palästina wurde später durch eine zivile Verwaltung durch die Briten ersetzt. Die Bezeichnung „Palästina“ bildete sich allerdings schon während des 19. Jahrhunderts heraus. Das so bezeichnete „britische Mandatsgebiet“ wurde unter Zustimmung des Völkerbunds, dem Vorläufer der Vereinten Nationen, installiert – mit dem Ziel, die am 2. November 1917 getroffene Balfour-Deklaration umzusetzen. Zu ihren Inhalten gehörte unter anderem, das Gebiet Palästina zur Heimat für das jüdische Volk zu machen. Die Erklärung nahm damit Bezug auf mehrere Einwanderungswellen von Jüdinnen und Juden aus überwiegend osteuropäischen Gebieten, die bereits im späten 19. Jahrhundert als Folge von Pogromen einsetzten und bis in die 1930er-Jahre andauerten. Diese Zuwanderung vermehrte die Minderheit der lokalen Jüdinnen und Juden und führte in den 1920er-Jahren zu bürgerkriegsähnlichen Konflikten mit der bereits in Palästina ansässigen arabischen Bevölkerung. 1948 wurde auf dem Territorium Palästinas der Staat Israel gegründet.

Einsamkeit, 1933

Nahaufnahme: Einsamkeit

Das Gemälde „Einsamkeit“ entsteht 1933, im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland. Auch in Frankreich, dem Land in dem die Chagalls überwiegend leben, sind antisemitische Strömungen wie auch ein Rechtsruck spürbar. Die Auswirkungen dieser historischen Umwälzung für Jüdinnen und Juden waren Chagall bewusst und sie werden im Bild reflektiert. Die Bildelemente sind auf wenige Motive reduziert, die die im Titel genannte Einsamkeit ausdrücken. Stilistisch ist das Gemälde mit den in Palästina entstandenen verwandt, allerdings zeigt sich bereits hier die Suche nach einer Bildsprache, die das Unrecht zum Ausdruck bringt, das jüdischen Menschen in Europa widerfährt.

Einsamkeit, 1933 (Detail)

Der bärtige Jude mit der Thora im Arm wirkt melancholisch. Schützend umhüllt der Gebetsschal sowohl den Mann als auch die Schriftrolle.

Einsamkeit, 1933 (Detail)

Die Geige repräsentiert Trost und Erinnerungen an Chagalls Kindheit. Sie ist zudem ein wichtiges Instrument in der jüdischen Kultur Osteuropas, gerade auch für Jüdinnen und Juden, die ihre Heimat verlassen mussten.

Einsamkeit, 1933 (Detail)

Um den Engel herum hellt sich der ansonsten düstere Himmel auf. Der Engel leistet dem jüdischen Mann Gesellschaft in seiner Einsamkeit und bringt ihm Trost.

NEW YORK

NEW YORK

Als Menschen jüdischen Glaubens sind Marc und Bella Chagall durch das nationalsozialistische Regime, das seit 1939 einen aggressiven Expansionskrieg führt, auch in Frankreich existenziell bedroht und müssen Europa Anfang der 1940er-Jahre verlassen.

1941 besucht der US-amerikanische Journalist Varian Fry im Auftrag des „Emergency Rescue Committee“ – einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge vor dem nationalsozialistischen Regime – Chagall im südfranzösischen Gordes. Er überbringt dem Künstler die Einladung des Museums of Modern Art in New York mit der Absicht, ihm eine sichere Zuflucht zu bieten.

Der Aufbruch von Frankreich, ein Schiff nach Amerika

Chagall zögert zunächst, dieses Angebot anzunehmen. Zudem muss auch noch das Geld für die Überfahrt beschafft werden, da die Einladung nicht die Kosten dafür beinhaltet. Die kurzfristige Verhaftung des Künstlers 1941 während einer Reise nach Marseille muss ihm aber den Ernst der Lage klargemacht haben. Mithilfe Frys reisen Marc und Bella Chagall schließlich nach Lissabon, um von dort per Schiff in die USA zu gelangen. Ihre Tochter Ida folgt mit ihrem Mann sechs Wochen später.

„In Amerika habe ich gelebt und gearbeitet in einer Zeit der weltweiten Tragödie […]“

Marc Chagall

Anders als in Frankreich, wo einige von Chagalls Arbeiten durch typische Landschafts- oder Stadtansichten eine Annäherung an das Land belegen, spiegeln sich die USA in den Werken des Künstlers kaum wider. Vielmehr beschäftigen Chagall die Geschehnisse in Europa und in seiner Heimat.

Krieg, 1943

Nahaufnahme: Krieg

Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten erfährt er, dass Witebsk von der Wehrmacht eingenommen worden ist. Die Stadt wird in den folgenden Jahren fast vollständig zerstört, ihre jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner vertrieben oder ermordet. Auch Nachrichten wie die von der Zerstörung des Warschauer Ghettos im Mai 1943 müssen den Künstler erschüttert haben. Viele seiner Gemälde aus jener Zeit kreisen um die Themen Krieg, Vertreibung und Gewalt.

Eine geduckte Häuserfront mit der dahinter klein aufragenden Kirchenkuppel von Witebsk bildet den Hintergrund. Mitten auf der schneebedeckten Straße liegt eine zurückgelassene tote Person mit ausgestreckten Armen.

Ein Schlitten mit Pferd soll einer Mutter mit Kind zur Flucht verhelfen. Links davon nahen Soldaten mit geschulterten Gewehren. Die Frau erinnert an die schutzbedürftigen Opfer des Krieges, zugleich ist ihre Darstellung an Madonnenbildnisse angelehnt.

Ein Dorfbewohner flieht mit einem Sack seiner Habseligkeiten über der Schulter aus dem Bild. Er erinnert an den „ewig wandernden Juden“, eine Gestalt christlicher Volkssagen, die heimatlos durch die Welt irrt. Für jüdische Intellektuelle symbolisierte diese Figur das Schicksal vieler vertriebenen Jüdinnen und Juden.

Chagalls Schwiegersohn arbeitet in der Medienbranche und kann den Maler mit Informationen versorgen, sodass dieser zu den ersten Exilkünstlerinnen und -künstlern gehört, die über die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden Bescheid wissen.

Vom Grauen der Shoah und der Suche nach einer Bildsprache

Eine genaue, gar bildliche Vorstellung vom Grauen der Shoah hatte Chagall Anfang der 1940er-Jahre jedoch noch nicht – so werden beispielsweise die erschütternden Aufnahmen aus den Konzentrationslagern erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Öffentlichkeit zugänglich. Sein Wissen setzt der Künstler indes in einer ihm vertrauten Bildsprache um.

Dabei greift er gezielt christliche Motive auf, die bereits in den späten 1930er-Jahren in seinem Werk erscheinen: Zu einer Zentralfigur wird der gekreuzigte Christus, dargestellt aber nicht als Erlöser, sondern als jüdischer Märtyrer.

„Jeden Tag trage ich ein Kreuz […] Hast Du mich verlassen, mein Gott? Warum?“

Marc Chagall

Als Lendenschurz trägt Jesus auf dem Gemälde „Die Kreuzigung in Gelb“ einen jüdischen Gebetsschal, genannt Tallit. Seine jüdische Identität wird zudem durch die gewickelten Tefillin (Gebetsriemen) und eine offene Thorarolle vor seinem rechten Arm betont. Ein Engel beleuchtet die Handschrift mit einer Kerze und bläst dabei in einen Schofar, ein Instrument, dessen Ursprung im Judentum liegt. Im Bildvordergrund flieht eine Familie mit einem Esel, was das christliche ikonografische Schema der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten aufnimmt.

Im Hintergrund sind eine brennende Stadt sowie ein Schiffsunglück erkennbar − eine Anspielung auf den Untergang des Flüchtlingsschiffes „Struma“, das 1942 in der Nähe von Istanbul mit mehr als 760 Passagierinnen und Passagieren versenkt wurde. Von konkreten Ereignissen ausgehend, entwickelt Chagall hier eine universelle Bildsprache: Jesus wird dabei zu einer Leidensgestalt, mit der sich Jüdinnen und Juden sowie Christinnen und Christen identifizieren können.

Die Kreuzigung in Gelb, 1942
  • Leben und Wunder Ludwigs des Heiligen, um 1480
  • Kreuzigung mit 12 Szenen aus der Passion Christi, 17. Jahrhundert

Erfahren Sie mehr über das Leben Chagalls im New Yorker Exil

Marc und Bella Chagall treffen am 21. Juni 1941 in New York ein. Die in Kisten und Koffer verpackten Bilder des Künstlers mit einem Gewicht von 600 Kilogramm sind zunächst in Spanien beschlagnahmt worden. Durch die Intervention von Ida Chagall und ihrem Ehemann werden sie jedoch schließlich freigegeben und können in die USA gebracht werden. Auf Chagall wartet in New York nicht nur das Museum of Modern Art, das 1946 eine große Einzelausstellung mit seinen Werken veranstaltet, sondern auch Pierre Matisse, Sohn des Malers Henri Matisse. Dieser betreibt inzwischen eine Galerie moderner Kunst und wird für Chagall zu einem wichtigen Unterstützer. Seinen Lebensunterhalt verdient der Künstler durch den Verkauf seiner Werke sowie Auftragsarbeiten: 1942 entwirft Chagall Kulissen und Kostüme für das Ballett „Aleko“ zur Musik von Pjotr Tschaikowski. Seine Einbindung in das Stück verdankt er dem Choreografen Léonide Massine und der Tänzerin Lucia Chase, die später das American Ballet Theatre mitbegründen werden. Drei Jahre später stattet er für das American Ballet Theatre das Stück „Der Feuervogel“ von Igor Strawinsky aus. Anerkannt als bedeutender Künstler seiner Zeit, genießt Chagall den Status einer Berühmtheit. Dies führt jedoch nicht dazu, dass er sich in den USA einlebt: Chagall lernt nie Englisch und bewegt sich vor allem in Emigrantinnen- und Emigrantenkreisen, unter Exilkünstlerinnen und -künstlern sowie jiddischsprachigen Intellektuellen.

Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs greift Chagall im Gemälde „Der gehäutete Ochse“ das Motiv des geschlachteten Tieres auf. Dieses ist einerseits mit Chagalls Erinnerungen verbunden: Sein Großvater war Fleischer. Zugleich geht es auf das Werk „Der geschlachtete Ochse“ des niederländischen Malers Rembrandt van Rijn zurück, das Chagall aus dem Pariser Louvre kennt.

  • Der gehäutete Ochse, 1947

    Der tote Ochse hängt blutüberströmt und kopfüber vor einer winterlichen Stadtkulisse. Seine Zunge lechzt nach dem eigenen Blut, das in einem Bottich unterhalb seines Kopfes aufgefangen wird. Die ungeschönt brutale Szene lässt sich als Metapher des Leidens und des Verlustes interpretieren, zugleich aber auch als Variation des Kreuzigungsthemas: Anstelle von Christus wurde hier ein Tier getötet. Schon als Kind ist Chagall vom Vorgang der Schlachtung ergriffen und beschreibt in „Ma vie“ eine kleine Kuh, deren Tod er miterlebte, als „nackt und gekreuzigt“.

  • Rembrandt van Rijn, Der geschlachtete Ochse, 1655

    Der Kadaver eines Ochsen hängt an den Hinterläufen in einem Stall oder Schuppen. Der Blick des Betrachtenden fällt in das Innere des Körpers mit dem freigelegten Fleisch und den Rippenbögen. Das Motiv des geschlachteten Ochsen ist in der niederländischen Malerei jener Zeit mehrfach zu finden, jedoch meist als ergänzendes Detail zu einem Hauptthema. Obwohl bei Rembrandt eine Frau in einer halb offenen Tür im Hintergrund zu erkennen ist, liegt der Fokus vollständig auf dem Ochsen. Der aufgespannte Tierkörper verweist auf die Vergänglichkeit des Lebens, darüber hinaus liegt aufgrund seiner weit gespreizten Hinterbeine ein Bezug zum gekreuzigten Christus nahe.

Der Verlust von Bella Chagall

Marc und Bella Chagall verbindet eine außergewöhnliche Lebens- und Geistesgemeinschaft: In seiner Frau findet der Künstler eine Partnerin, die seine Kunst versteht, inspiriert und wirkungsvoll beeinflusst. Beide teilen gemeinsame Erinnerungen an ihre Heimatstadt Witebsk, die Bella Chagall in literarischen Texten verarbeitet. In New York verfasst sie ihre Autobiografie mit dem Titel „Brenendike likht“ („Brennende Lichter“), in der sie entlang der Riten und Feiertage des jüdischen Lebens Erinnerungen an ihre Jugend in Witebsk Revue passieren lässt.

„[…] es ist so schwer, aus den vertrockneten Erinnerungen ein Stück vergangenen Lebens aufblühen zu lassen!“

Bella Chagall

Nach der Befreiung von Paris im August 1944 schöpft das Paar Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr nach Frankreich. Bevor es dazu kommen kann, erkrankt Bella Chagall an einer Virusinfektion und verstirbt am 2. September 1944 mit nur 48 Jahren.

Trauer lässt der Inspiration lange Zeit keinen Raum

Zutiefst getroffen vom plötzlichen Tod seiner Frau, ist Chagall mehrere Monate lang nicht imstande zu malen. „Um sie herum“ und „Die Lichter der Hochzeit“ gehören zu den ersten Bildern, mit denen der Künstler im Frühjahr 1945 seine Arbeit wieder aufnimmt. Sie entstehen aus einem älteren Gemälde, „Die Zirkusleute“, 1933, das Chagall in zwei Hälften zerschneidet und übermalt.

  • Um sie herum, 1945

    Ein Akrobat schwebt von oben herab. In einer durchsichtigen Kugel in seinen Händen ist Witebsk mit den verschachtelten Häusern und der orthodoxen Kirche im Hintergrund zu erkennen. Der Künstler selbst sitzt mit verdrehtem Kopf an der Staffelei am unteren Bildrand, rechts von ihm seine Frau. Traurig wendet sie sich der Darstellung ihrer verlorenen Heimat zu und legt dabei in melancholischer Geste eine Hand an die Wange.

  • Die Lichter der Hochzeit, 1945

    Umringt von Musikern steht das Brautpaar unter dem für jüdische Hochzeitsfeiern traditionellen Traubaldachin. Diese Szene umfängt links wie ein nächtlicher Traum ein geschwungener Bildbereich in sattem Blau. Er verleiht der ursprünglich heiteren Komposition die Schwere eines nostalgischen Rückblicks. Ganz links erhebt ein Wesen mit dem Kopf eines Schafsbocks und Flügeln sein Glas zum Brautpaar.

FRANKREICH

Unsichtbarer Titel

1948 ist der Zweite Weltkrieg in Europa beendet. Marc Chagall verlässt die USA und kehrt nach Frankreich zurück. Die Erinnerungen und Erfahrungen der Vergangenheit haben ihn jedoch für immer geprägt und begleiten ihn während seines neuen Lebens in Südfrankreich.

Der Geist der verstorbenen Bella Chagall schwebt über dem Künstler, der sich zusammen mit seiner neuen Partnerin Virginia Haggard zeigt, die er erst vor Kurzem kennengelernt hat. Die Welt, die beide umgibt, dominieren Grautöne. Immer wieder ist Marc Chagall zerrissen zwischen den schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit und dem privaten Neuanfang. Der Künstler hat gerade erst wieder begonnen zu malen, nachdem ihn der Tod seiner Frau in tiefe Trauer gestürzt hatte.

Das Gemälde zeigt ihn bei der Arbeit an einer Kreuzigungsdarstellung, die das durchlittene Leid der jüdischen Bevölkerung während der Shoah repräsentiert. Noch befindet sich die Familie im Exil, der Zweite Weltkrieg ist durch den Sieg der Alliierten in Europa noch nicht lange beendet. Die Schrecken des Krieges und die Verbrechen der Nationalsozialisten werden in ihrem Ausmaß erst jetzt für die Weltöffentlichkeit sichtbar.

Die Seele der Stadt, 1945

Erfahren Sie mehr über jüdische Exilantinnen und Exilanten nach dem Zweiten Weltkrieg

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung der Überlebenden aus den Konzentrationslagern durch die Alliierten drangen die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zunehmend ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Eine Zukunft in Deutschland, aber auch anderen europäischen Ländern schlossen viele Exilantinnen und Exilanten jüdischen Glaubens sowie Überlebende für sich aus. Die Verfolgungen und Repressionen ihnen gegenüber beschränkten sich nicht auf die deutschen Nationalsozialisten, sondern waren in den Bevölkerungen vieler Länder verbreitet und hörten mit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland nicht auf. Auch nach Kriegsende kam es in Ländern, vermehrt in Osteuropa, weiterhin zu Pogromen. Als neue Heimat wählten viele Jüdinnen und Juden entweder die USA oder Palästina, allerdings wurde Letzteres durch die britische Mandatsregierung erschwert, die den Ankommenden in vielen Fällen den Aufenthalt verweigerte. Die Notwendigkeit, einen geografischen Ort für jüdisches Leben zu definieren, wurde bald international (an-)erkannt, und so kam es 1948 zur Gründung des Staates Israel.

Der einst strahlendste Engel im Himmel wendet sich von Gott ab, stürzt auf die Erde und bringt dort fortan Übel und Vernichtung über die Menschheit. Chagall inszeniert die biblische Erzählung – mit Luzifer als zentraler Figur in flammendem Rot – in dunklen Farben. Begonnen 1923 in Paris, malte Marc Chagall die erste Fassung dieses Gemäldes unter den Eindrücken des russischen Bürgerkriegs, aber auch der Stimmung in Berlin, die er auf einem vorangehenden Besuch wahrgenommen hatte.

Eine frühe Skizze lässt vermuten, dass diese erste Fassung nur die beiden Hauptfiguren enthielt: den vom Himmel herabstürzenden Engel und den Mann mit der Thorarolle im Arm. 1933 übermalt er das bereits fertige Bild – eine Praxis die in seinem Schaffen immer wieder vorkommt, meist um Bildaussagen zuzuspitzen oder zu schärfen. Mehrere Skizzen aus dieser Zeit vermitteln eine Vorstellung des Arbeitsprozesses. Die finale Überarbeitung geschieht 1947 und in ihr zeigt der stürzende Engel nun eindeutig weibliche Merkmale. Vor allem scheint er nun nicht mehr die Ursache zu sein, vor der die anderen Figuren fliehen, sondern er selbst erschrickt vor dem Geschehen auf der Erde. Nach Vollendung des Werks verlässt Marc Chagall die USA und zieht sich in die südfranzösische Provinz bei Saint-Paul-de-Vence zurück.

Der Engelsturz, 1923–1933–1947
Skizze für Der Engelsturz, 1934

Nur wenige Motive der Skizze, etwa die Madonna mit Kind, die Uhr, der Gekreuzigte und der Kerzenleuchter, sind in dem Bild enthalten. Diese und andere Skizzen zeigen, dass das Motiv Chagall fortwährend beschäftigte.

Skizze für Der Engelsturz, 1934

Mit zahlreichen Bildelementen angereichert, stellt Chagall den titelgebenden Engelsturz hier in einer perspektivisch gestaffelten Landschaft dar. Mehrere Personen ergänzen die Szenerie im Vordergrund.

Skizze für Der Engelsturz, 1934

Diese Farbskizze zeigt als Bildkomposition alle Elemente der zweiten Fassung, die der Künstler umsetzt. Die dunklen Farben nähern sich jedoch eher der nochmals überarbeiteten dritten Version an.

Marc Chagall vor dem Gemälde Der Engelsturz in seinem Atelier in der Villa Montmorency, Paris, 1934

Der Maler vor der finalisierten zweiten Fassung des „Engelsturzes“. Auch wenn die einzelnen Farbwerte in der Schwarz-Weiß-Aufnahme nicht mehr nachvollziehbar sind, erscheint das Kolorit deutlich heller als in der dritten Fassung.

Nur wenige Motive der Skizze, etwa die Madonna mit Kind, die Uhr, der Gekreuzigte und der Kerzenleuchter, sind in dem Bild enthalten. Diese und andere Skizzen zeigen, dass das Motiv Chagall fortwährend beschäftigte.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine ambivalente Zeit — weltpolitisch, aber auch persönlich für Marc Chagall. In diese fallen die Entstehung des Gemäldes „Die Kuh mit dem Sonnenschirm“, aber auch die Überlegungen des Künstlers, die USA zu verlassen. Letzteres würde eine große räumliche Trennung vom Grab seiner verstorbenen Frau bedeuten.

Die als Verlängerung des wedelnden Kuhschwanzes in das Gemälde integrierte Darstellung des Paares zeigt seine Frau Bella mit dem vor ihr schwebenden Selbstporträt des Künstlers. Die ihr dunkles Kalb säugende weiße Kuh hebt sich deutlich von ihrer in kräftigen Rottönen gehaltenen Umgebung ab. In dieser verschwinden die dörfliche Kulisse und der am Boden liegende Mann im Clownskostüm, auf dessen Brust der Hinterhuf der Kuh zu stehen kommt.

Die Kuh mit dem Sonnenschirm, 1946

Outro

Vorfreude auf Chagall?

Marc Chagall wird nach 15 Jahren erstmals wieder in einer umfassenden Ausstellung in Deutschland präsentiert. Das Publikumsinteresse wird groß sein – planen Sie Ihren Besuch in der SCHIRN deshalb rechtzeitig.

GEHEIMTIPP

Geheimtipp

Steht die Welt in diesem Bild Kopf? Nein. „Schlitten im Schnee“ ist eine jener Arbeiten Chagalls, die sich von zwei Seiten betrachten lassen. Immer wieder legt der Maler in seinem Œuvre Gemälde so an, dass sie um 180 Grad gedreht werden können.

Der Schlitten im Schnee, 1944

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