Ist das vollständige Eintauchen in eine virtuelle Welt eine Utopie oder eine Dystopie? Diese und andere Fragen beantwortet Professor Dr. Rupert-Kruse, Immersionsforscher, im Interview mit dem SCHIRN MAG.

SCHIRN MAG: Herr Prof. Rupert-Kruse, wenn man den Begriff „Immersion“ googelt, landet man nach dem ganz allgemeinen „Eintauchen“ relativ schnell beim „Konzept des Zweisprachenerwerbs“. Auch in den Medienwissenschaften herrscht längst keine Einigkeit, was dieser Begriff überhaupt umfassen soll. Was macht eine genaue Definition so schwierig?

Prof. Dr. Rupert-Kruse: Das Problem ist, dass hier eigentlich zwei Begriffe miteinander vermischt wurden: zum einen der Begriff der Immersion, der sich auf die „multimodale Architektur eines Mediums“ bezieht, also darauf, wie viele Sinneskanäle von einem Medium angesprochen werden; zum anderen der Begriff des Präsenzerlebens, der sozusagen aus der Immersivität des Mediums resultiert und als „mentales Gefühl der Anwesenheit in einem medial vermittelten Raum“ verstanden werden kann. Allerdings herrscht auch hier ein Interpretationsspielraum, da der Begriff der presence von der bloßen „Aufmerksamkeit für ein Medium“ bis hin zu dem bereits erwähnten „mentalen Gefühl der Anwesenheit in einem medial vermittelten Raum“ reicht.

Und wie lautet Ihre Begriffsdefinition?

Als immersiv wird eine mediale Apparatur oder ein mediales Ensemble immer dann bezeichnet, wenn es als multi-sensorische Reizquelle die Sinne der Rezipierenden mit vermittelten Informationen überflutet. Präsenzerleben kann man verstehen als “mediated experience that seems very much like it is not mediated”. Ich reduziere dies in meinem Verständnis gern auf grundlegende leibliche Prozesse, wenn ich also in meiner Wahrnehmung virtuelle Objekte oder Ereignisse als real oder existent wahrnehme – dies jedoch immer als meist kurze dezeptive, also trügerische Empfindungsepisoden gedacht.

Tatsächlich liest man gerade im Aufkommen der Virtual Reality immer häufiger auch jenseits des akademischen Betriebs von Immersion. Stellt diese aber nun tatsächlich eine qualitative Veränderung dar, oder kommt uns das nur so vor? Man kann ja auch mit sehr viel simpleren Mitteln eine Art von Eintauchen erzeugen.

Der Vorteil an VR ist die Immersivität des Mediums. Man könnte argumentieren, dass hier die imaginative Tätigkeit nicht so stark beansprucht wird wie zum Beispiel bei immersiven Erlebnissen mit Literatur, da hier bereits auf der Wahrnehmungsebene Immersion beziehungsweise Präsenzerleben erzeugt wird. Der große Unterschied ist, dass in der Literatur und im Film die Narration eine zentrale Rolle spielt, da durch sie simulative, empathische und imaginative Prozesse in Gang gesetzt werden – dies geschieht aktuell in der VR nur im Ansatz, leider. 

Wie auch immer jenes Erleben nun erzeugt wird: Der Mensch scheint sich danach zu sehnen. Welche Erklärungsmodelle haben die Medienwissenschaften für den Wunsch nach Immersion?

Letztendlich scheint es darum zu gehen Neues, Fremdes und allgemein Anderes zu erleben, egal, welchen Medieninhalten wir uns zuwenden. Die neuen immersiven Medien steigern dabei noch die Intensität des Erlebten, wir können Teil einer virtuellen Welt werden – und zwar mehr als jemals zuvor. Meistens geschieht dies als Teil der Arbeit an der eigenen Identität, Eskapismus und Neugier spielen hier eine Rolle, aber auch das Lernen am Modell.

Am Medium Film kann man sehr gut nachvollziehen, wie Immersion funktioniert – wenn sie funktioniert. In dem Zusammenhang spricht man auch von „somatischer Empathie“. Was hat es damit auf sich?

Somatische Empathie meint das Mit-Empfinden auf leiblicher Ebene – den Schmerz Anderer zu spüren, das reine Gefühl eines Anderen am eigenen Leib erleben.

2008 haben Sie zusammen mit Lars Grabbe den Sci-Fi-Thriller „Cloverfield“ daraufhin untersucht, wie die spezifische Darstellung von Gewaltszenen den Zuschauer ins Geschehen eintauchen lässt.

Hier war es die Kameraarbeit, die eine leibliche Erschütterung bei den Rezipienten auslöste. Die Panik des Filmenden, angesichts der Zerstörung New Yorks, äußerte sich in dessen körperlicher und damit sichtbarer Erschütterung, die sich durch die Bewegung der Kamera auf die Zuschauer überträgt.

Im Film ist die Begrenzung des Eintauchens transparent: Kinosaal, Leinwand, Laufzeit. Danach kann ich wieder ins ganz normale Leben hinaustreten. In anderen Bereichen, sehr viel subtiler beispielsweise in der Konzeption von Erlebnis-Räumen, geht das nicht so leicht. Würden Sie zustimmen, dass die Übergänge von immersiven in „nicht-immersive“ Dimensionen zunehmend verschwimmen?

Ich würde widersprechen, dass man beim Film oder beim Buch leicht wieder ins normale Leben tritt. Wenn das Erlebnis entsprechend ist, kann es auch das Leben beeinflussen. Der Unterschied bei den Erlebnisräumen – mir fällt hier der Themenpark „The Void“ ein oder die Entwicklung hin zur Mixed-Reality – liegt meiner Meinung nach darin, dass sich die unterschiedlichen Realitäten mehr und mehr vermischen und letztendlich der technische oder mediale Kontext entscheidet, ob wir uns in einer medialen Situation befinden oder nicht. Denn immersiv sind wir eigentlich auch in der physikalischen Realität.

In einem weiter gefassten Begriff könnte man also auch, um einmal die Ausstellung "Diorama" in der SCHIRN zu zitieren, das imaginäre Eintauchen ins naturkundliche Diorama als Immersion verstehen. Umgekehrt müsste man aber den Begriff auch eingrenzen, sonst wäre letztlich auch der Gang in den Supermarkt oder das Gespräch mit Freunden in irgendeiner Weise immersiv.

Man müsste unterscheiden zwischen ästhetischer Erfahrung und nicht-ästhetischer Erfahrung. In der Realität sind wir immersiv, da diese all unsere Sinne adressiert und wir uns in ihr anwesend fühlen – dadurch strukturieren wir ein Erlebnis und eine Welt, die wir konstruktivistisch wahrnehmen. Die Erfahrung eines Dioramas ist mit der Erfahrung eines Head Mounted Displays, wie man es von den VR-Brillen kennt, zu vergleichen: hohe visuelle Immersion in einen Bildraum oder Raumbild. Dies ist eine ästhetische Erfahrung, zu vergleichen mit dem Erleben von Las Vegas mit all seinen Attraktionen, der Pyramide oder dem Eiffelturm, wie es Laura Bieger [Amerikanistin, Autorin von „Ästhetik der Immersion: Raum-Erleben zwischen Welt und Bild“, Anm. d. Red.] in ihrem Buch beschreibt.

Ist es zumindest theoretisch denkbar, dass jene Grenzen komplett aufgelöst respektive nicht mehr bestimmt werden können – eine Art „Inception“ mit 1001 Unter-Ebenen?

Angedacht wurde das bereits. In dem Kapitel "Grundlagen der Phantomatik" des 1964 erschienenen Buches "Summa technologiae" wirft Stanislaw Lem eine Frage auf, die sich sicher einige Konstrukteure aktueller immersiver Technologien und Virtueller Realitäten ebenfalls stellen werden: „Wie lassen sich Realitäten erzeugen, die für die in ihnen verweilenden vernünftigen Wesen in keiner Weise von der normalen Realität unterscheidbar sind [...]“? Für realistisch halte ich das jedoch nicht – Lem im Übrigen auch nicht. Wir begeben uns ja grundsätzlich freiwillig in mediale Situationen und wissen also von deren Artifizialität – wir durchschreiten eine Passage; und egal, wie realistisch diese Medieninhalte auch sind, das Medium wird sich bemerkbar machen.

Der polnische Schriftsteller Stanisław Lem, Image via polskieradio.pl

Stanislaw Lem, der ja vielen vor allem als Sci-Fi-Autor bekannt wurde, notierte in „Solaris“ auch den berühmten Spruch, die Menschen bräuchten keine neue Welten, nur Spiegel.

VR können ebenfalls als Spiegel dienen. Sie stehen in Differenz zu unserer Realität und geben uns letztendlich Aufschluss über uns und unser Verhältnis zu ihr.

Einmal angenommen, die vollständige Auflösung wäre doch denkbar: Wäre das für Sie eine Utopie oder Dystopie – oder eine Vorstellung jenseits heutiger moralischer Kategorien?

Einerseits Utopie – wenn auch eine nützliche, da dieser Gedanke eine Triebfeder der aktuellen Entwicklung immersiver Medientechnologien ist. Andererseits Dystopie – eben aus der Frage nach der Moral heraus, auch hier hat Lem übrigens bereits vorgelegt: Wie könnten uns die Architekten solcher virtueller Welten manipulieren, wenn wir die Simulation nicht als solche erkennen beziehungsweise hinterfragen?

ZUR PERSON

Professor Dr. Patrick Rupert-Kruse ist Medientheoretiker und Immersionsforscher an der Fachhochschule Kiel. Er beschäftigt sich mit Theorie und Konzeption immersiver Medien, Medienrezeptionsforschung und transmedialem Storytelling und leitet das Institut für immersive Medien (ifim).