Wie Museen mit ihrem kolonialen Erbe umgehen, ist in Deutschland oft kein Thema. Die Künstler Nora Al-Badri und Nikolai Nelles stellen mit ihrem Projekt “Not A Single Bone” unbequeme Fragen.

Wenn Nora Al-Badri und Nikolai Nelles über ihre Arbeit sprechen, benutzen sie häufig das Wort  „Narrativ“. Das liegt daran, dass es ihnen um Geschichten geht und um das Wissen, das diese Geschichten vermitteln. Und vor allem um jene Geschichten, die Kunst- und Kulturinstitutionen sich selbst und anderen erzählen. Bei ihrer Arbeit „Not A Single Bone“ geht es um ein Dinosauriersekelett, das heute im Naturkundemuseum in Berlin zu sehen ist.

Die Geschichte nimmt ihren Lauf im Jahr 1909. Zwei Jahre zuvor endete der Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania. Nachdem der Aufstand von den Besatzern blutig niedergeschlagen wurde, begannen in der deutschen Kolonie Ausgrabungen. Eigentlich suchten die Kolonialherren nach Rohstoffen für die Waffenproduktion, gefunden haben sie dabei aber etwas anderes. So geht zumindest die offizielle Erzählung.

Am Fuß des Tendaguru

„Institutionen erzählen diese Geschichten häufig so, dass die Entdecker der Exponate romantisiert werden“, sagt Nora Al-Badri. Aber: „Die Knochen waren für jeden sichtbar und die Bevölkerung am Tendaguru-Hügel wusste genau, wo sie liegen.“ Denn in Wirklichkeit waren es die Eingeborenen, die die Deutschen auf diese außergewöhnlich großen Knochen am Fuß des Tendaguru aufmerksam machten. Die indigene Bevölkerung wurde daraufhin als Lastenträger eingesetzt um die Fossilien zur Küste zu bringen und sie von dort nach Deutschland verschiffen zu können.

Nora Al-Badri and Nikolai Nelles, Territories of cultural fracking, 2017
Nora Al-Badri and Jan Nikolai Nelles, Single Bone, 2017

Aus der Recherchearbeit von Al-Badri und Nelles ist eine Ausstellung geworden. Mit Filmaufnahmen der mittlerweile überwucherten und kaum noch zu erkennenden Fundstelle in Tansania. Mit ausführlichen Interviews zu Dinosauriern und den kulturellen Vorstellungen, die sie umgeben. Mit Knochen, die auf präzisen Daten aus dem Naturkundemuseum basieren. Allerdings: die wollte das Museum auf Anfrage nicht herausrücken. Al-Badri: „Die Daten der Knochen haben wir trotzdem — wir sagen gerne: gefunden.“

Eine Erfindung der Moderne

Die Existenz fossiler Riesenknochen war eigentlich schon immer bekannt — ob im antiken Griechenland oder bei den indigenen Amerikanern. Dass deren Wissen oft viel umfangreicher ist als das der Naturwissenschaftler, wurde erst spät im 20. Jahrhundert anerkannt. Nur war es eben den First Nation Americans wichtiger, die Fossilien im Boden zu lassen. Der Schriftsteller und Philosoph Denny Gayton erklärt in einem Video der Ausstellung, für die nomadischen Indianerstämme sei es eine obszöne und potenziell gefährliche Vorstellung, Dinge aus der Erde zu holen.

Nora Al-Badri and Jan Nikolai Nelles, Single Bone, 2017

Der Kunsthistoriker W.J.T. Mitchell schrieb vor nunmehr fast 20 Jahren, der Dinosaurier sei das Totemtier der Moderne und zugleich ihre Erfindung. „Dinosaurs are us“, sagt Mitchell. Die Riesenechse der Moderne und der Dino der Popkultur sind eine Projektion, weil wir uns kaum vorstellen können, dass unsere eigene Spezies selbst einmal ausstirbt. Al-Badri: „Dabei war immer Kreativität und Spekulation involviert. Bis heute wurde noch nie ein ganzes Saurierskelett gefunden. Bei jenem Brachiosaurus aus Tansania sind auch nur etwa 70 Prozent gefunden worden, der Rest ist Vermutung.“ Der Berliner Brachiosaurus musste schon ein paar Mal den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft gemäß umgebaut werden.

Wir wissen es nicht

Ein weiterer Teil der Ausstellung heißt „How an AI Imagines a Dinosaur“. Ein selbstlernender Algorithmus hat zwei Knochen auf Basis von Proteinstrukturen entworfen, um zu zeigen, dass viele verschiedene Versionen von Dinosauriern denkbar sind. Überhaupt: Woher wissen wir, wie Dinosaurier ausgesehen habe? Wissen wir eben nicht. Denn ein großer Teil der Urzeitechsen ist Erfindung, ein mehr oder weniger gezieltes Raten der Naturwissenschaftler.

Nora Al-Badri and Jan Nikolai Nelles, Not A Single Bone, Ausstellungsansicht, NOME Gallery, Berlin, 2017
Nora Al-Badri and Jan Nikolai Nelles, Not A Single Bone, Ausstellungsansicht, NOME Gallery, Berlin, 2017

Die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Urzeitwesen entsteht zeitgleich mit dem Imperialismus im 19. Jahrhundert. Zufall? Hierarchien des Wissens zu etablieren scheint den Kolonialherren und auch den frühen Paläontologen ein Anliegen zu sein. Dass die Naturwissenschaft sich an Fakten orientiert, ist ein weiteres Narrativ: „In unserer Gesellschaft steht die Naturwissenschaft ganz selbstverständlich in ihrer Signifikanz hierarchisch über dem Wissen der indigenen Bevölkerung“, sagt Nikolai Nelles.

Niemals nach Europa

Selbst in Lindi, der Kreisstadt am Tendaguru, weiß heute kaum jemand von der Ausgrabungsstätte. „Uns ist wichtig, die lokale Gemeinde in Tansania, deren Großeltern noch für die Deutschen arbeiten mussten, zu identifizieren und mit ihnen zu sprechen. Sie haben uns beauftragt, in Deutschland etwas zu unternehmen, damit etwas zurückkommt — und im Grunde ein Museum zu bauen.“ Damit ist natürlich nicht gemeint: ein geschlossener Bau mit einer jahrhundertealten Tradition der Wissensproduktion.

Nora Al-Badri and Nikolai Nelles, How an AI imagines a Dinosaur N°2, 2017

„Es soll stattdessen ein virtueller Ort werden, der auch reisen kann“, sagt Nelles. Es gehe aber auch um eine Rezentrierung und darum, die Wissensproduktion nicht den anderen zu überlassen. Der geographische Ort in Afrika ist trotzdem wichtig, denn der ist das einzige, was letztlich nicht und niemals mit nach Europa genommen werden kann. 

Bei ihrem Projekt geht es den beiden Künstlern nicht um die Rückgabe geraubter Güter. Sie wollen stattdessen die Praktiken der Extraktion zeigen. Ein Missverständnis: Als sie beim Naturkundemuseum die Daten für die Reproduktion der Knochen angefragt haben, war die Reaktion schnell: Nicht ein einziger Knochen werde nach Afrika zurückgegeben — "not a single bone".

Nora Al-Badri and Nikolai Nelles, Territories of cultural fracking, 2017