Sind Künstlerinnen und Künstler besonders kreativ, wenn es ums Kochen geht? Dieses Mal mit Gilbert & George, die es kaum erwarten können, ihre Lieblingskellner wieder zu umarmen.

Alice Waters, Köchin und Mitgrün­de­rin des berühm­ten kali­for­ni­schen Slow-Food-Restau­rants Chez Panisse, hat die enge Verbin­dung zwischen Kunst und Kochen auf den Punkt gebracht: „…sie sind beide reak­tiv und krea­tiv, sie imitie­ren sich gegen­sei­tig und passen sich einan­der an.“ Exis­tiert demnach eine Verbin­dung zwischen dem, was in den Ateliers von Künst­le­r*innen passiert, und dem, was in ihren jewei­li­gen Küchen vor sich geht? Finden sich Bezüge zu ihrem Werk und ihrer Persön­lich­keit wieder? Sind Künst­ler*innen beson­ders krea­tiv, wenn es um den alltäg­li­chen Akt des Kochens geht? Anhand von Anek­do­ten und Fotos rund um ihre Küchen und Ess­ge­wohn­hei­ten geben wir Einbli­cke in die kuli­na­ri­schen Lebens­wel­ten bekann­ter Künst­le­r*innen.

Seit die Restaurants in London Ende letzten Jahres vorläufig ihre Türen schließen mussten, fühlt sich der kulinarische Alltag von Gilbert & George an wie ein einziges endloses Picknick. Vor der Pandemie pflegte das britische Künstlerpaar alle drei Mahlzeiten auswärts zu essen, doch die Ausnahmesituation hat ihre Routinen komplett auf den Kopf gestellt. Ihren fast ein halbes Jahrhundert andauernden Kochstreik ausgerechnet jetzt zu beenden haben die beiden trotzdem nicht vor, stattdessen essen sie vorläufig nur noch kalte Kost aus dem Supermarkt. Auf dem Speiseplan stehen Wurst, Käse, Lachs, Salat und etwas Obst, „Picknickessen“, wie sie es nennen, weil es nicht aufwendig zubereitet oder aufgewärmt werden muss. Verzehrt wird das Ganze aber nicht im Grünen, sondern etwas weniger idyllisch auf der langen Arbeitsplatte in ihrem Studio. Als notorische Anzugträger erhoffen sie sich von dieser Verzichtkur zumindest eins: am Ende des Lockdowns eine bessere Figur zu machen als zuvor.

Gilbert & George, OUR NEW NORMAL LUNCH (Screenshot), 2020, Image via Instagram%The White Cube Gallery: https://www.instagram.com/p/CALXymDAvoY/?utm_source=ig_web_copy_link
Gilbert & George beim Lunch im ersten Lockdown 2020 (Screenshot), Image via Instagram/White Cube Gallery: https://www.instagram.com/p/CALXymDAvoY/?utm_source=ig_web_copy_link

Als Gilbert Proesch und George Passmore, damals noch Bildhauereistudenten an der Saint Martin‘s School of Art, Mitte der 1960er-Jahre in das Erdgeschoss eines unrenovierten Gebäudes in der Fournier Street in Londons East End zogen, hatten sie weder eine Innentoilette noch eine Küche. 50 Jahre später leben sie noch immer dort, zwar alles andere als spartanisch, aber weiterhin ohne Kochmöglichkeiten. Einzig eines der kleinsten Zimmer im Haus, ausgestattet mit einer Spüle und einem Wasserkocher, hat küchenartige Züge, doch einen Herd gibt es dort nicht. Auf der Anrichte stehen ein paar Packungen Instantkaffee und ein Milchkarton, der Rest des Raumes ist vollgestellt mit Dutzenden von Keramikvasen, ein kleiner Teil ihrer über 5000 Objekte umfassenden Sammlung aus dem 19. Jahrhundert. Gekocht wurde hier noch nie, versichern sie, nicht einmal ein Ei. Zu sehr graust es ihnen vor dem Geruch von warmem Essen zuhause.

Gilbert & George empfinden Kochen als reine Zeit­ver­schwen­dung

Überhaupt empfinden Gilbert & George alles, was mit dem Thema Kochen zu tun hat, als reine Zeitverschwendung. Einkaufen, schnippeln, sauber machen, Reste verwerten – das alles würde sie nur von ihrer eigentlichen Tätigkeit, der Kunstproduktion, ablenken. Umso überraschender ist der Fakt, dass die schmucklose Kaffeeküche einer der zentralen Schauplätze ihrer künstlerischen Laufbahn ist. Der Raum war fast zehn Jahre lang ihr Studio, und um die kleine Spüle herum sind einige ihrer besten Arbeiten entstanden, darunter die Serie „Dirty Words Pictures“ von 1977. Aufgrund des Platzmangels hatten sie damals keine andere Möglichkeit großformatige Fotoarbeiten zu produzieren, als sie in Paneele aufzuteilen. Mittlerweile besitzen sie ein weiträumiges Atelier im Nebengebäude, doch der gitterförmige Aufbau der Werke ist zu ihrem Markenzeichen geworden.

Gilbert & George in einer (nicht ihrer) Küche, Photo: Christian Sinibaldi

Wenn die „Living Sculpture“, wie sie sich nennen, einmal ein Restaurant finden, das ihnen gefällt, gehen sie jahrelang konsequent hin, oft mehrmals am Tag. Dort bestellen sie über Monate hinweg immer das gleiche Gericht, „so lange, bis wir fast kotzen müssen“, sagt Gilbert. Das mag wie ein kurioser Spleen klingen, ist aber praktisch begründet, denn je weniger Entscheidungen sie im Alltag treffen müssen, desto mehr Energie bleibt ihnen, um über ihre Arbeit nachzudenken. Die beiden sind zu absoluten Gewohnheitstieren geworden, um ihrer Kreativität möglichst viel Raum zu lassen.

Je weni­ger Entschei­dun­gen im Alltag, desto mehr Ener­gie haben sie für ihre Arbeit 

Die konstante Wiederholung spielt auch in ihrem Arbeitsprozess eine wichtige Rolle: Während der Recherchephase für neue Bilder fotografieren sie tausendfach die gleichen, dem Anschein nach banalen Motive, ob Graffitis, ausgespuckte Kaugummis, Bäume, architektonische Details oder die Gerichte, die sie essen. Aus dieser pausenlosen Aufzeichnung ihrer unmittelbaren Umgebung leiten Gilbert & George die universellen Themen ab, um die sich ihre Tableaus drehen, wie Religion, Sex, Geld, Krankheit oder Hoffnung. An Inspiration hat es ihnen nie gemangelt, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass sie jahrzehntelang mindestens dreimal täglich aus dem Haus gegangen sind, um essen zu gehen.

Fragt man die beiden nach ihren Lieblingslokalen, gerät das Essen an sich schnell in den Hintergrund. Zwar schwärmen sie heute noch vom Ochsenschwanz und dem „Spotted Dick“ – ein Pudding mit Trockenfrüchten – des mittlerweile geschlossenen „The Market Café“, wo sie über dreißig Jahre lang täglich einkehrten, aber am liebsten reden sie über die Menschen hinter dem Tresen. Sie kennen unzählige Kellner und Köche beim Namen, begrüßen sie mit Küsschen und erkundigen sich nach deren Familien. Ali Dirik, Eigentümer des türkischen Restaurants „Mangal II“ in Dalston, sind sie in zwei Lokale gefolgt, auf der Beschneidungsfeier seiner Söhne waren sie auch. Die jahrelange Beziehungspflege hat einen angenehmen Nebeneffekt: Das Künstlerduo bekommt immer das beste Essen serviert und darf sich Extrawünsche leisten.

Das Künstlerduo bekommt immer das beste Essen serviert

Wie sehr das Kulinarische und das Soziale im Leben des Künstlerpaars miteinander verknüpft sind, wird klar, als sie erzählen, dass die Eigentümerin des Pubs um die Ecke, „The Golden Arm“, zu Beginn des zweiten Lockdowns angefangen hat, ihnen wöchentlich mit Köstlichkeiten gefüllte Picknickkörbe von Fortnum & Mason zu schicken, und dass die Nachbarin quer gegenüber jeden Sonntagabend vorbeikommt, um ihnen warmes Essen mitzubringen. Ihre Lieblingskellner sehen Gilbert & George übrigens weiterhin täglich: Die Porträts von Mustafa, Arkan, Tolga und Wasel haben sie kurzerhand an die Wände ihres Ateliers gehängt.

So sehen die Küchen der Kunstwelt aus

Von Frida Kahlo bis Rirkrit Tiravanija

What's cooking?