Cesar Oiticica Filhos hat seinen Onkel Hélio Oiticica in einem Found-Footage-Dokumentarfilm porträtiert. Am 3. Oktober kommt der Film in deutsche Kinos.

Kasimir Malewitschs „Weißes Quadrat auf Weißem Grund“ sei kein Gemälde, sagt Hélio Oiticica. Es sei das Ende aller Regeln in der Kunst, der Anfang eines neuen Zustands. „Zustand der Erfindung“ nennt er ihn. Die tiefe, energische Stimme des brasilianischen Künstlers bricht durch das Rauschen alter Tonbänder. Sein Neffe Cesar Oiticica Filhos hat Interviews und Filmbilder aus Archiven geholt und einen Film über seinen berühmten Onkel gemacht. Zu sehen sind Super-8-Fragmente, die Oiticica selbst gefilmt hat, Aufnahmen von Freunden, die den Künstler zeigen, bewegte Bilder von den Favelas Brasiliens und den Straßen New Yorks, Ausschnitte von Underground-Filmen. Filhos hat die gefundenen Filmdokumente zu einem Porträt verwoben. Es ist ein schnell montiertes, schwindelerregendes Bilderfest, das erahnen lässt, wie es sich anfühlte, Hélio Oiticica zu sein. 

Zusammen mit Kollegen wie Neville D’Almeida und Lygia Clark findet Oiticica in den Sechzigern zu einer eigenen Sprache. Sie wird zum Markenzeichen brasilianischer Kunst. Die neue Künstler-Generation wendet sich von der Malerei ab und schafft Objekte, Installationen und Environments, die eine direkte Erfahrung mit allen Sinnen ermöglichen. Der Betrachter wird zum Erkundenden. In die Werke fließt ein Lebensgefühl, das sich aus den Straßen São Paulos und Rio de Janeiros speist, aus Samba, Bossa Nova und Jimi Hendrix, aus Sex, Drag Queens und Kokain. 

Kunst wird jetzt getragen und gefühlt, nicht mehr nur rezipiert.

Der Moment der Erfindung, den Oiticica in der Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts ausmacht, entlädt sich in einem vitalen Oeuvre. Er überträgt Farb- und Formstimmungen von der Leinwand auf den Raum und baut seine „Penetrables“, abstrakte begehbare Installationen. Seiner Faszination für Körper-Empfindungen, wie er sie vom Sambatanzen her kennt, entspringen die „Parangolés“, skulpturale Kostüme. Kunst wird jetzt getragen und gefühlt, nicht mehr nur rezipiert. Es gebe weder die Möglichkeit, noch einen Grund zur Malerei zurückzukehren, sagt Oiticica im Film. 

Über seine Werke spricht der Künstler analytisch und distanziert. Er verortet sich selbst nüchtern in der Kunstgeschichte, wenn er etwa von „Tropicália“ erzählt, einem Environment, das mit Sand, Pflanzen und Papageien Klischees persiflierte. Es wird 1967 im Museum für Moderne Kunst in Rio ausgestellt, gibt dem brasilianischen Lebensgefühl der Sechziger, das sich zwischen Folklore und westlicher Moderne zu verorten sucht, einen Namen, und initiiert den „Tropicalismo“, eine Bewegung, die Kunst, Film und vor allem die Musik für wenige Jahre in Aufruhr versetzt. Doch die Bilder zeigen auch einen Oiticica, der sich im Rausch verliert, irgendwo zwischen Partys, Sexexzessen und zu viel Kokain. 

Oiticica schnieft immer wieder, seine Augen sind wässrig.

Zusammen mit dem Experimentalfilmemacher Neville D’Almeida kreiert Oiticica in New York die „Cosmococas“, von denen eine jetzt auch in der Gruppenausstellung „Brasiliana“ in der SCHIRN zu sehen ist. Das Publikum nimmt auf Hängematten, Kissen oder in Swimmingpools Platz, hört Musik und schaut sich eine Diashow an. Es ist eine Erfahrung ähnlich wie im Kino, die beiden Künstler nennen das „Quasi Cinema“. D’Almeida und Oiticica zeichnen Gesichtszüge von fotografischen Porträts auf Büchern, Platten oder Zeitschriften mit Linien aus Kokain nach, es sind die Bilder, die später in den Cosmococas projiziert werden. Sie ziehen auch selbst Kokain, Oiticica schnieft immer wieder, seine Augen sind wässrig. 

Fast die gesamten Siebziger verbringt Oiticica in New York. Für die Schau „Information“ im Museum of Modern Art entwirft er 28 Nester, in die sich Besucher zurückziehen können. Als Nancy Rockefeller bei der Eröffnung einen der Vorhänge zurückgezogen habe, um in eines der Nester zu schauen, habe ein Paar gerade darin gevögelt, erzählt er amüsiert. Er taucht in die Kunst- und Underground-Szene ein, macht Aufnahmen mit Schauspieler und Drag-Queen Mario Montez, der sonst in Filmen von Jack Smith und Andy Warhol auftritt. In São Paulo hatte Oiticica den urbanen Raum noch als inspirierend erfahren. Doch New York entpuppt sich als Schauplatz der Eitelkeiten, als Ort, der das leichte Lebensgefühl in monotone Orgien einbetoniert. In New York zu leben, sei wie in der Hölle zu leben, sagt er. 1978 zieht er wieder nach Brasilien. Dort sei er nur noch joggen gegangen und habe Obstsäfte getrunken. 1980 stirbt er an einem Schlaganfall.