Monet im White Cube, Turrell zum Begehen und Sugimoto als spirituelle Erfahrung: Unsere Autorin Sabine Weier hat sich im Sommerurlaub in Japan auf der Kunstinsel Naoshima umgesehen.

Ein mannshoher, schwarz gepunkteter Kürbis ruht auf einem Steg, dahinter rauscht das Meer. Wenn ein Bus in der Nähe des Kürbisses hält, strömen kleine Gruppen quiekender Touristen über den Steg und stellen sich neben den Kürbis in Pose, dann schallt das Klicken der Kameras durch die kleine Bucht. Die Skulptur ist das Wahrzeichen der Kunstinsel Naoshima in Japan, ein Werk von Yayoi Kusama, der Grande Dame der zeitgenössischen japanischen Kunst. Punkte sind ihr Markenzeichen, seit sie ihr als Kind in einer Vision erschienen, überzieht Kusama Objekte, Körper, Skulpturen oder Taschen der Luxusmarke Louis Vuitton mit Punkten.

Wer in Japan Kunst sehen will, fährt nach Tokio. Oder nach Naoshima, dafür wirbt der Kürbis. Nur 15 Quadratkilometer misst die Insel, sie ist eine Antithese zur brummenden und blinkenden Millionenstadt: Traditionelle japanische Häuser, schmale Gassen, am Hafen liegen Fischerboote. Nur ein paar hippe Restaurants und Cafés lassen darauf schließen, dass hier die Kunstwelt Einzug gehalten hat. Entlang der von gelben Sandstränden gesäumten Küste stehen Skulpturen von Künstlern wie Walter De Maria oder Niki de Saint Phalle. Mehrere Museen zeigen Gegenwartskunst. Künstler bespielen leerstehende Häuser in den Siedlungen der Insel.

In den Achtzigern begann die Benesse Holding, eine japanische Unternehmensgruppe, die unter anderem Schulbücher verlegt, die verschlafene Insel in einen Ort für Kunst und Architektur zu verwandeln. Die Transformation hat mittlerweile selbst die Nachbarinseln erfasst: Auf Teshima etwa ließ Benesse vor einigen Jahren ein Haus für Christian Boltanskis „Les Archives de Coeur" bauen. Der Künstler nahm das Herzklopfen von Menschen auf der ganzen Welt auf, Besucher können sich die Aufnahmen hier anhören, ihren eigenen Herzschlag aufnehmen und ihn zum Archiv hinzuzufügen.

Auf Naoshima selbst beeindrucken vor allem die architektonischen Werke. Verlässt man die Fähre, schreitet man durch eine filigrane Halle. Auf symmetrisch angeordneten dünnen weißen Säulen ruht ein großes Flachdach, ein in der Mitte platzierter Glaskubus dient als Wartehalle mit Restaurant und Souvenirshop. Entworfen wurde die Halle vom Architekten-Duo „Sanaa". Ryue Nishizawa und Kazuyo Sejima haben ihr Studio in Tokio, auf ihrem Zeichenbrett entstand zum Beispiel das New Museum in New York. Doch der eigentliche Architekturstar der Insel ist Tadao Ando. Einst Autodidakt mit kleinem Atelier in Osaka, gehört er heute zu den wichtigsten Architekten der Gegenwart. Für seine Entwürfe verwendet er fast ausschließlich Sichtbetonplatten in der Größe japanischer Tatami-Bodenmatten und mit Einkerbungen, die beim Anbringen entstehen. Ando verputzt sie nicht, sie sind zu seiner Signatur geworden.

Für die Kunstinsel hat der Architekt gleich mehrere Museen geschaffen, etwa das „Benesse House Museum" mit integriertem Hotel, das die Sammlung der Unternehmensgruppe beherbergt. Künstler wie Donald Judd, Jackson Pollock, Bruce Nauman oder Richard Long stehen auf der Liste, im Edelrestaurant speist man mit Andy Warhols „Flowers". Spannender für westliche Touristen sind die Arbeiten der vertretenen japanischen Künstler, etwa Yukinori Yanagis Installation „The World Flag Ant Farm" von 1990. Für die Ameisenfarm verband er mehrere mit buntem Sand in Form verschiedener Nationalflaggen gefüllte Plexiglasboxen miteinander, die Tiere bahnten sich Wege durch das Labyrinth. Höhepunkt ist die Präsentation von Hiroshi Sugimotos Serie „Time Exposed" mit mehreren Fotografien aus den Jahren 1980 bis 1997. Mit einer Großformatkamera reiste der Künstler in verschiedene Länder und machte dort Schwarzweiß-Aufnahmen vom Meer mit unterschiedlichen Belichtungszeiten von bis zu drei Stunden. Die Horizontlinie teilt die Bilder exakt in der Mitte, nur durch die Belichtung ergeben sich subtile Variationen. Diese Bilder auf der Terrasse des Museums zu betrachten, wo sie an Betonwänden hängen, zwischen denen eine Öffnung den Blick auf das Meer freigibt, ist eine spirituelle Erfahrung.

Wie wunderbar die Symbiose zwischen Architektur und Kunst sein kann, erlebt man im 2004 von Tadao Ando gebauten Chichu Art Museum. Nur drei Künstler sind in dem unter mehreren Hügeln gebauten Museum vertreten. Tageslicht fließt durch Öffnungen in der Oberfläche und interagiert mit den Werken, deren Sujet Licht ist. Herzstück ist der „Claude Monet Space", ein ganz in weiß gehaltener Raum -- selbst das Aufsichtspersonal ist weiß gekleidet und die Besucher schlüpfen vor dem Betreten in weiße Pantoffeln. Präsentiert werden Wasserlilien-Gemälde aus Monets Spätwerk. Darin verarbeitete er Motive aus seinem Garten in Giverny, der übrigens vor dem Museum nachgebildet ist.

Einen Raum bespielt Walter De Maria mit einer riesigen schwarzen Kugel und goldenen Stehlen. Anhand von drei Arbeiten aus verschiedenen Werkphasen sollen Besucher James Turrells Auseinandersetzung mit Licht nachvollziehen. In „Open Field" aus dessen „Aperture Series" treten sie ein: Was zuerst als blau leuchtendes, quadratisches Rechteck an der Wand wahrgenommen wird, entpuppt sich als Öffnung zu einem ausgeleuchteten Raum. Eine ganz ähnliche Arbeit aus dieser Serie ist in einer ebenfalls von Ando erbauten kleinen Halle mitten in einer Siedlung in Naoshima zu sehen. Da sitzt der Besucher zuerst zehn Minuten im Dunkeln, bis sich die Augen an die Umgebung gewöhnen und das leuchtende Rechteck entdecken, hinter dem sich ebenfalls ein Hohlraum verbirgt. Naoshima ist ein riesiger Spielplatz für Kunstbegeisterte: Beim nächsten Japanbesuch unbedingt einplanen und nicht das Souvenir-Foto neben dem Kürbis vergessen.