Das Music Discovery Project des hr-Sinfonieorchesters verbindet scheinbar unvereinbare Musikrichtungen. In diesem Jahr sind die Musiker Francesco Tristano und Moritz von Oswald zu Gast.

Francesco Tristano hatte spätestens an dem Punkt meine Aufmerksamkeit, als er sagte: Das Schöne am Barock sei, dass es im Deutschen den Rock im Name trägt. Barock'n Roll. Das sagte er in einer Dokumentation Anfang 2015. Wie wahr! Jeder, der Vivaldis Die Vier Jahreszeiten und daraus das vierte Konzert „Winter“ kennt, weiß, das war der Rock'n'Roll des frühen 18. Jahrhunderts. Und eigentlich hat dieses Stück seine Rock-Qualitäten bis heute nicht eingebüßt.

Francesco Tristano zuzuhören, während er über Musik spricht, macht einfach großen Spaß. Die Musikgeschichte breitet sich vor unserem inneren Auge aus wie die Teile eines großen Flickenteppichs, die sich plötzlich auf sonderbar harmonische Weise zusammenfügen. Wie eng frühere Epochen der Musik – Alte Musik, Barock oder Klassik – mit heutiger Musik zusammenhängen – Pop, Jazz oder Elektro –, erzählt Francesco Tristano nicht nur, sondern beweist es in seiner eigenen Musik, die er mit dem theoretischen Unterbau aus etwa 400 Jahren Musikgeschichte schafft.

Elektromusiker der ersten Stunde

Er bringt verschiedene Epochen zusammen, versetzt das Alte ins Hier und Jetzt. Wer ihn Live sehen möchte, hat Gelegenheit dazu: Der Luxemburgische Pianist, Komponist und Musikproduzent ist am 27. und 28. Januar der Special Guest des diesjährigen Music Discovery Projects. Unterstützung bekommt er dabei vom Elektromusiker und Technoproduzenten der ersten Stunde, Moritz von Oswald.

Francesco Tristano, Image via francescotristano.com

Tristanos Arbeit als Komponist lässt sich am besten anhand von Beispielen erklären. Wenn er etwa die Musik des Barock ins Jetzt übersetzt, kommt dabei eine CD wie „Long Walk“ heraus. Für diese hat er Stücke von Buxtehude und Bach eingespielt und außerdem zwei eigene Kompositionen. Bach war ein Schüler Buxtehudes und wanderte 1705 den langen Weg von Arnstadt nach Lübeck, um den bekannten Organisten Buxtehude zu treffen (und sich möglicherweise als Nachfolger des 70-Jährigen zu bewerben).

Ein Schüler Bachs

Wenn man so möchte ist Tristano ein Schüler Bachs. Seine eigenen Kompositionen basieren auf einem Manuskript von 14 Kanons, die auf der Basslinie der Goldberg Variationen basieren. Für sein Stück „Long Walk“ hat Tristano diese Kanons als Loop verarbeitet. Kanon und Loop haben eine große Gemeinsamkeit: sie setzen sich aus Wiederholungen zusammen. Die zweite Eigenkomposition auf der CD ist „Ground Bass“, eine Variationsfolge über einer ostinate Bassfigur und damit eine Anknüpfung an die barocke Tradition.

Francesco Tristano hat mit 13 Jahren sein erstes Konzert mit eigenen Kompositionen gespielt. Er studierte Klavier an der renommierten Juillard School in New York City, besuchte die Meisterklasse bei Rosalyn Tureck, der „Hohepriesterin Bachs“. Tristano ist klassischer Pianist und spielt als solcher in den Konzerthäusern dieser Welt. Er debütierte mit Sergej Prokofjews Klavierkonzert Nr. 5, hat Johann Sebastian Bachs Goldberg Variationen und das pianistische Gesamtwerk von Luciano Berio eingespielt. Aber er ist eben auch Komponist und Produzent und das macht die Sache so spannend.

Die Klassik in der elektronischen Musik

Denn mit seinen Kompositionen ist er auch in den Clubs dieser Welt zu Hause. 2014 bespielte er in Hamburg den Boiler Room. Eingerahmt von Konzertflügel, Keyboard und Synthesizer, ausgestattet mit Computer und Effektgeräten, spielte, loopte, sampelte Tristano und schuf mit klassischer Hardware und Live-Instrumentation tanzbaren Elektro. Er bringt die Klassik in die elektronische Musik. Was anders herum aber auch funktioniert. 2007 erschien sein Album „Not for Piano“, auf dem er eigene Versionen von Techno-Klassikern einspielte. Für Piano solo.

Tristano und von Oswald, Image via francescotristano.com

Tristanos Unterstützung beim Music Discovery Project ist der Musiker, Produzent und Labelinhaber Moritz von Oswald. Er brachte den Techno nach Deutschland, den er in Detroit kennen gelernt hatte. Als klassisch ausgebildeter Percussionist trat er erstmals als Schlagzeuger der 80er-Jahre-New-Wave-Gruppe Palais Schaumburg in Erscheinung. In den 90er-Jahren spielte er dann eine wichtige Rolle in der Berliner Technoszene, u.a. mit seinem Label Basic Channel, das er  mit Mark Ernestus gegründet hatte. Seit Anfang der 2000er beschäftigt sich von Oswald mit Improvisation.

Die Kluft zwischen E-Musik und U-Musik

Die Verbindung von klassischer Musik mit Pop, Elektro oder Jazz ist das Konzept des Music Discovery Projects, das seit einigen Jahren vom Hessischen Rundfunk ausgerichtet wird und bei dem das hr-Sinfonieorchester auf (im weitesten Sinne) Popkünstler trifft. In der Vergangenheit waren Paul van Dyk und Mousse T., 2raumwohnung, der Schlagzeuger Martin Grubinger, die Berliner DJs Lexy & K-Paul und Oliver Koletzki oder das Pop-Folk-Duo Milky Chance zu Gast. Sie haben sich auf Werke von Beethoven, Strawinsky, Wagner, Prokofjew, Schostakowitsch oder aber Steve Reich und John Adams bezogen.

Das Music Discovery Project 2017 wartet unter dem Titel „UrSprung“ mit Elektronik, Barock, Dance und Avantgarde auf und ganz sicher mit Bach und Ravel. Dirigiert werden beide Abende von dem Spanier José Luís Gómez.

Ob Techno ohne Bachs Vorarbeit entstanden wäre? Wer weiß. Fest steht, dass viel mehr Bach im Techno steckt, als wir gemeinhin vermuten. Anlass genug wäre das, um die große Kluft zwischen der ernsten E-Musik und der unterhaltsamen U-Musik zu schließen. Denn Musik ist Musik. Das sagte schon Alban Berg und an diese Maxime hält sich auch Francesco Tristano.