Die Art Virus-Villa in Frankfurt zeigt drei aufwendig installierte und komplexe Videoarbeiten von Jonas Englert.

Es ist eine Schau, die Identitäten nachspürt. Identitäten, die sich musikalisch manifestieren, in politischem Engagement oder in einer Gemeinschaft. Jonas Englert, Künstler und Student an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung (HfG), zeigt bei der Frankfurter Galerie Art Virus eine Auswahl seiner Videoarbeiten. In der Art Virus-Villa sind drei aufwendige Installationen zu sehen.

Gleich nach dem Betreten der Villa begegnet man „Unity“ aus dem Jahr 2013. Dafür lud Englert 170 Studierende, Professoren und Mitarbeiter der HfG Offenbach in die Aula der Hochschule. Sie positionierten sich auf einer mit Europaletten errichteten Rampe. Ein Prozess von erstaunlicher Sozialdynamik: Es bildeten sich Gruppierungen, Nachbarschaften. Die Szenerie wurde von einem erhöhten Standpunkt aus gefilmt. Die ursprüngliche, zweieinhalbminütige Aufnahme hat Englert um ein Fünfundzwanzigfaches verlangsamt. So entstand ein einstündiger, stummer Loop. Mithilfe einer Konsole kann man den gezeigten Bildausschnitt selbst bestimmen und reinzoomen. Mit „Unity“ möchte Englert die Identität des Individuums in der Masse und zugleich auch die Identität der Masse erforschen.

Jonas Englert, Unity, 2013, Copyright the artist
Utopie ist mittlerweile ein negativer Begriff 

Überall im Haus sind insgesamt sieben Monitore aufgestellt, die das Videoprojekt „Zoon Politikon“ zeigen. Jonas Englert hat ausgewählte Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kunst gebeten, aus ihrem von politischem und gesellschaftlichem Engagement geprägten Leben zu erzählen. Bazon Brock, Daniel Cohn-Bendit, Frigga Haug, Hilmar Hoffmann, Oskar Negt, Burghart Schmidt und Christina Thürmer-Rohr haben bisher teilgenommen. Die Auswahl sei ihm schwer gefallen, berichtet Englert. Es sei selten, dass jemand bis ins Alter das überparteiliche politische Engagement konsequent durchhält. Die einzelnen Videos sind je 50 Minuten lang. Die Akteure sind allesamt in Nahaufnahme vor schwarzem Hintergrund zu sehen und blicken frontal in die Kamera.

Jonas Englert, Zoon Politikon, 2015, Copyright the artist

Es werden tiefgehende Einblicke in Lebens- und Denkwelten der alten Bundesrepublik möglich. Wir erfahren vom spätestens seit 1968 deutlich werdenden Aufbruch einer Generation, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde. Nicht zufällig wendet sich Englert hier von der Gegenwart ab. „In meiner Generation fehlt mir das Politische. Man ist nur noch mit sich selbst beschäftigt“, sagt der Künstler. Utopie sei mittlerweile ein negativer Begriff. „Mein Liebling ist Oskar Negt“, fügt Englert hinzu. Der 1934 geborene Sozialphilosoph sei, im positiven Sinne, einer der wenigen Utopisten in Deutschland. Die Identität des politischen Menschen ist für Jonas Englert Thema des weiterhin laufenden Projekts. Gleichzeitig mit der Ausstellungseröffnung geht die Seite zoonpolitikon.net/ online. Dort lassen sich alle bisherigen Beiträge noch einmal in voller Länge nachvollziehen.

Jonas Englert, Zoon Politikon, 2015, Copright the artist
Ein fast schon körperliches Erlebnis 

Im Souterrain schließlich ist auf zwei großen, nebeneinander platzierten Monitoren „Praeludium“, Jonas Englerts jüngstes Werk, zu sehen. Mit der multimedialen Rauminstallation bezieht sich Englert auf Johann Sebastian Bachs für die europäische Kultur identitätsstiftende Harmonielehre. Der Organist Jacob Bussmann spielt das Präludium in F-Moll BWV 857 aus Bachs Zyklus „Das wohltemperierte Klavier“. Bussmanns Interpretation des Musikstücks ist in fünfundzwanzigfacher Verlangsamung zu hören. Das etwa dreiminütige Präludium wird auf knapp eineinhalb Stunden gedehnt. Durch die Verlangsamung ist der Sound in einer ungewöhnlichen, bis im Infraschallbereich angesiedelten Frequenz zu hören. Er wird so zu einem fast schon körperlichen Erlebnis, wirkt monumental und bedrohlich zugleich. Auf dem linken Monitor sieht man Jacob Bussmanns Gesicht beim Spiel von Bachs Präludium.

Jonas Englert, Praeludium, 2015, Copyright the artist

Der rechte Monitor lässt wiederum, von oben aufgenommen, die Hände des Organisten während des Spielens erkennen. Die Schwarzweißaufnahme und der dunkle Hintergrund isolieren das Gesicht und die Hände. Beide Videos zeigen die Bewegungsabläufe in extremer slow motion. Kürzlich wurde die multimediale Installation in Alten Nikolaikirche in Frankfurt gezeigt, wo sie einen intensiven klanglichen und visuellen Eindruck hinterließ. 

Mit seiner Ausstellung bei Art Virus möchte Jonas Englert auch eine formale Verbindung zwischen den drei Projekten herstellen. „Aus der stummen slow motion heraus füge ich bei „Unity“ die zoomende Komponente ein, bei „Praeludium“ die Soundkomponente, die ich dann verlangsame. Bei „Zoon Politikon“ beginnen die sonst anonymen Menschen zu sprechen, sie werden zu Persönlichkeiten“, skizziert Englert sein Vorhaben. Die Komplexität seiner Projekte nimmt von Jahr zu Jahr zu. Jonas Englerts Videokunst wächst. Sie bekommt neue inhaltliche Tiefe, erschließt neue Klangdimensionen und bleibt dabei auch eine Kunst fürs Auge.

Jonas Englert, Praeludium, 2015, Copyright the artist