Der Künstler Peter Piller – seine Serie „Frau Baum“ ist momentan in der SCHIRN-Ausstellung „Privat“ zu sehen – zeigt zeitgleich eine umfassende Schau in der Hauptstadt.

„Vielleicht gibt es Meisterwerke, die unter Gähnen zustande gekommen sind.“ Vielleicht existieren ebenso Kunstwerke, die aus Gebrauchsgraphiken, Amateur- und Dokumentationsfotografien oder Zitaten entstanden sind? Zumindest letztere Frage beantwortet Peter Piller in seiner aktuellen und ersten Soloausstellung in der Berliner Dependance der Galerie Capitain Petzel mit einem konsequenten „Ja“, wenn er sein seit 1998 angereichertes Archiv in neue Kontexte überführt. In dem bereits in der DDR als Ausstellungsraum konzipierten Glas-Beton-Pavillon präsentiert der Künstler unter dem Titel „Tatsächliche Vermutungen“ etwa den zu Anfang zitierten Satz von Proust – aus seinem Kontext separiert und in einem Rahmen platziert, kurzum: als Kunstwerk.

Bilder aus dem Internet

Frage und Antwort stehen hier gleichermaßen im Fokus. Ursprünglich andernorts in kunstfremden Zusammenhängen publiziert, extrahiert Peter Piller, der seit 2006 als Professor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig lehrt, seine Motive jenseits ihrer einstigen Kontexte, sodass sie sich den Re-Interpretationen und der Re-Präsentationen öffnen. Titelblätter von Zeitungen und Magazinen bieten dabei eine ebenso inspirative Quelle wie ein Luftbild-Archiv, fotografische Schadensfall-Dokumentationen einer Schweizer Versicherungsgruppe oder Bilder aus dem Internet.

Aus dem Magazin „Armeerundschau“ der Volksarmee NVA der ehemaligen DDR stammt die umfangreiche Serie „Umschläge“ (2011-12) im Erdgeschoss der Galerie Capitain Petzel, die in den Dialog mit der Umgebung und ihrer historischen Vergangenheit tritt. Denn in direkter Nachbarschaft der Karl-Marx-Alle, über die bis 1989 die Regierung der ehemaligen DDR militärische Großparaden ziehen ließ, erinnern Pillers Arbeiten mit ihren bearbeiteten Auszügen unweigerlich an die einstige, militärisch dominierte Repräsentationsfunktion der angrenzenden Prachtmeile. Vor- und Rückseite wurden dafür aus den Ausgaben der 60er- bis 80er-Jahre entnommen, um – befreit von Schrift und Zahlen – wie ein kontrastreiches Diptychon im Eingangsbereich an den Wänden zu hängen.

Natur- und Menschengewalt

Beide Seiten in der unverkennbaren Ästhetik ihrer jeweiligen Zeit, zeigt deren linke Hälfte stets weibliche Porträts. Auf dem vorderen Cover wiederum stehen den DDR-Interpretationen der Pin-Up-Girls, unter ihnen oftmals bekannte Schauspielerinnen und Musikerinnen, militärische Motive entgegen. Seien es Soldaten im Kampf, Waffenansichten oder andere Begleiter des Krieges, sie alle entlarven gemeinsam mit ihrem Gegenüber die verkörperten Rollenmuster. Statt ihrer Betrachtung, wie ursprünglich der Fall, die vollständige Lektüre des Magazins zwischenzustellen, stehen die geschlechtsspezifischen Vorstellungen der DDR nun in aller Direktheit nebeneinander. Bei der Entlarvung visueller Codes jedoch nur einsetzend, greift Peter Piller ebenso optisch in die Cover ein: Titel, Überschriften und Ziffern werden vollkommen von ihren Ursprüngen befreit, um auf den einfarbigen Fläche visuell für sich zu wirken.

Treffen in der Serie „Umschläge“ noch Sexualität und Tod – die beiden zentralen Themen menschlichen Handelns, die im Zentrum der Ausstellung stehen –unmittelbar aufeinander, konzentriert sich die angrenzende Werkreihe „Noch immer Sturm“ von 2012 auf Orte, die letzteren assoziieren. Historische Postkarten und in Büchern gefundene Abbildungen bilden hier den Ausgangspunkt für die großflächige Wandinstallation, deren vergrößerte Schwarz-Weiß-Fotografien verlassene Schlachtfelder zeigen – teils durch den Ersten Weltkrieg mit Blut getränkte Landschaften, teils von der Natur aufgewühlte Gewässer. Natur- und Menschengewalt sind kaum mehr zu unterscheiden; ihre Zerstörungskraft hinterlässt ähnlich tiefe Spuren in der Erde und auf dem Wasser.

Neu entstandene Ordnungssysteme

30 Motive aus der titelgebenden Serie „Tatsächliche Vermutungen“, die im Untergeschoss zu sehen sind, widmen sich ebenfalls menschenleeren Schauplätzen, in diesem Fall jedoch denen einer deutschen Kriminalserie aus den 70er-Jahren. Verweist der Begriff der „tatsächlichen Vermutungen“ auf dessen „umgangssprachliche […] Bedeutung […] im Sinne eines ‚als richtig annehmen‘“ (Professor Dr. Hans Joachim Musielak, Juristische Arbeitsblätter 8-9/2010, 561), unterstützt zunächst auch der neutral-dokumentarische Stil den Eindruck von Glaubwürdigkeit. Ihre Filmgebundenheit jedoch verrät die Inszenierung der Szenen – ein Widerstreit von Sehen und Wissen, von gezielter Darstellung und Glauben, der hier offen dargelegt wird.

Wie aus Pillers Suche nach dem absichtslos ästhetischen und besonderen Bild thematisch zusammenhängende Sammelgruppen entstehen, visualisiert auch die Reihe „Frau Baum“ im oberen Bereich der Galerie. Bekommt der Besucher im Erdgeschoss noch vergleichsweise klassische Porträtbilder präsentiert, ist hier aus der Amateurfotografie von virtuellen Dating-Plattformen unfreiwillig ein etabliertes Motiv entstanden: das der suchenden Frau, die sich des Partners anstatt neben einem Baum inszeniert. Durch einen Filter unkenntlich gemacht, betonen die Bilder die Ähnlichkeit der Kompositionen. Individualität unterwirft sich hier wie in den Zeichnungskonvoluten den neu entstandenen Ordnungssystemen.

Die Suche nach den Gemeinsamkeiten

Einzigartigkeit, mit der sich die Frauen auf den Plattformen von anderen abzugrenzen suchen, wird hier relativ. Peter Pillers Archiv dokumentiert dieses Phänomen in der Serie „Frau Baum“, aus der 12 Arbeiten derzeit auch in der aktuellen Ausstellung der SCHIRN Kunsthalle, „PRIVAT. Das Ende der Intimität“, zu sehen sind. Im Kontext der anderen in der Gruppenschau ausgestellten Werke tritt hier ein komplexes Wechselspiel verstärkt in den Vordergrund, wie auch Piller selbst im Interview mit Martina Weinhart bekräftigt: „Ein privates Bild ist wohl eines, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. In diesem Fall sind es ja veröffentlichte Bilder; trotzdem habe ich sie anonymisiert, um die Privatheit zu bewahren“ – ein Schritt zurück zu einem Bewusstsein, das im Internet unlängst in Vergessenheit zu geraten schien.

Ungeachtet ihrer jeweiligen Thematik: Was Peter Pillers Arbeiten verbindet, ist die Suche nach den Gemeinsamkeiten in der scheinbaren Willkür der Medien. Und er findet sie; die „tatsächliche Vermutung“ erweist sich als berechtigt: Es gibt sie, die Meister- und Kunstwerke, die nicht mehr nur im Zufall des künstlerischen Malens oder Zeichnens, sondern unter Gähnen, mittels stundenlangem Durchblättern von Magazinen und ihrer anschließenden Auswertung entstanden sind.