Marco Anelli fotografierte 1545 Besucher, die Marina Abramović bei der Performance „The Artist is present“ im MoMA gegenübersaßen. Die Ausstellung einer Auswahl der Fotos im Fotografie Forum Frankfurt zeigt hoch emotionale Porträts.

716 Stunden war die Performance-Künstlerin Marina Abramović im New Yorker Museum of Modern Art -- kurz MoMA genannt -- anwesend. Das entspricht der gesamten Laufzeit ihrer Retrospektive „The Artist is present" im Frühjahr 2010. Während in mehreren Räumen mit Bild- und Tonaufnahmen, sowie von Tänzern und Schauspielern Abramovićs vergangenes Werk dokumentiert und nachgestellt wurde, vollzog die Künstlerin selbst eine neue Performance.

An 75 Tagen saß die Künstlerin nahezu unbewegt im Lichthof des Museums auf einem Stuhl. Auf einem Stuhl ihr gegenüber konnten Ausstellungsbesucher Platz nehmen. Was dann passierte, wissen wohl nur diejenigen, die Abramović in die Augen gesehen haben. Der Fotograf Marco Anelli, der seit 2007 mit der Künstlerin zusammenarbeitet, hat die Performance fotografisch begleitet.

1545 Porträts, die berühren

Jeder einzelne Besucher, der Abramović gegenüber Platz genommen hat, wurde von Anelli porträtiert. Eine Auswahl dieser Bilder ist noch bis zum 27. August im Fotografie Forum Frankfurt zu sehen. Die quadratischen Bilder Anellis zeigen in Großaufnahme die Gesichter einer Auswahl der insgesamt 1545 Menschen, die mit Abramović in einen stillen Dialog getreten sind und von der Präsenz der Künstlerin sichtlich berührt waren.

Die von Anelli eingefangenen Momente zeigen spontane Tränen, bewegte Gesichter, tiefe, konzentrierte Blicke und vereinzeltes Lachen -- eine Bandbreite intensiver Gefühle, die auch den Betrachter berührt und Gänsehaut verursacht. Die Künstlerin selbst ist auf keinem der Bilder zu sehen -- und doch ist sie in den Blicken der Porträtierten präsent. Stundenlang standen die Besucher Schlange, um ihr gegenüber zu sitzen. Wie lange sie verweilen wollten, blieb ihnen überlassen. Neben den schlicht gerahmten Fotografien zeigen kleine Schilder, der wievielte Besucher Platz nahm und wie viele Minuten oder Stunden er gegenüber Marina Abramović sitzen blieb.

Hypnotisch und erleuchtend

Männer, Frauen, Kinder, alte Leute, eine Burka-Trägerin, Exzentriker und die eine oder andere Berühmtheit, wie beispielsweise Sharon Stone, Lou Reed und Björk, saßen Marina Abramović gegenüber. Einige Menschen suchten dieses intensive Erlebnis mehrmals. Ein New Yorker, der mit insgesamt 14 Sitzungen am häufigsten den Blickkontakt mit der Künstlerin suchte, beschrieb in einem Interview die Konzentration durch den Blickkontakt als hypnotisch und erleuchtend und die vielen Zuschauer drumherum als zusätzlich energetisierend.

Seine Tränen, die auch eindrücklich in der in Frankfurt gezeigten Bilderauswahl zu sehen sind, seien Tränen der Freude und der Liebe, die ihn in diesen Momenten überkam. Was kitschig klingen mag, kann man beim Ansehen von Anellis großformatigen Bildern ansatzweise nachvollziehen. Er hat mit seinen Bildern die Präsenz Marina Abramovićs eingefangen und nach Frankfurt gebracht, ohne die Künstlerin dabei selbst abzubilden. Das ist unbedingt sehenswert.

Die Ausstellung wird unter anderen im Rahmen des Fotografieprojekts Ray (das SCHIRN MAG berichtete) präsentiert.