Saul Leiter war in den 1950er-Jahren ein Pionier der künstlerischen Farbfotografie – und seiner Zeit damit weit voraus. Entdeckt wurde der Künstler allerdings erst viel später. Das Fotografie Forum Frankfurt zeigt nun eine beeindruckende Retrospektive.

Saul Leiter gilt als Star der Fotografie. Als Pionier der Farbfotografie wird der Künstler, der im November 2013 verstarb, verehrt und weltweit gesammelt. Dass Leiter so gefeiert wird, ist allerdings noch gar nicht lange der Fall. Der Fotograf ist ein Spätentdeckter, einer der „lange durchs Raster der Kunstgeschichte gefallen ist". So sagt es Ingo Taubhorn, der Chefkurator des Hauses der Photographie an den Deichtorhallen in Hamburg. Die Saul-Leiter-Retrospektive, die nun im Fotografie Forum Frankfurt zu sehen ist, hat er gemeinsam mit der ehemaligen Mode-Redakteurin Brigitte Woischnik kuratiert.

Wie Saul Leiter entdeckt wurde? Durch Zufall. Eines Tages, irgendwann am Ende der 1980er-Jahre, erschien der Fotograf in der New Yorker Galerie von Howard Greenberg. Es war gerade viel los. Eine Ausstellung musste vorbereitet werden. Für Leiter hatte niemand Zeit. Eine Kiste mit Bildern ließ er trotzdem da. Ein paar Tage später bemerkt jemand diese Kiste wieder, die Fotografien werden ausgebreitet und es wird mucksmäuschenstill im Raum. „Den Galeriemitarbeitern war sofort klar: Hier ist ihnen ein Schatz in die Arme gelaufen", erzählt Brigitte Woischnik.

Saul Leiter leidet unter der Geringschätzung seines Vaters

Leiters Bilder sind besonders, einzigartig. Er fotografierte „flächig", mit Blick für Farben, mit feinem Gespür für Atmosphäre. Ein Foto, das in Harlem aufgenommen wurde, zeigt einen Mann mit edlem Anzug und Zigarette im Mund. Sein Gesicht erkennt man kaum. Weil es Leiter darum nicht geht, weil er kein Porträt schaffen wollte. Ins Auge fallen das Rot eines LKWs, das Rot der Krawatte -- und Buchstaben. Schriftzüge bilden eine Art Collage. Was dabei im Vordergrund steht, was im Hintergrund steht, das spielt hier keine Rolle mehr.

Als Fotograf, der malt, wurde Leiter häufig beschrieben. An den Abstrakten Expressionismus, an die Farbfeldmalerei eines Mark Rothko erinnern seine Fotografien -- vor allem die, die er bei Regenwetter aufgenommen hat, die Tropfen oder Verwischungen auf Fensterscheiben zeigen. Tatsächlich hat Leiter selbst sein Leben lang auch immer gemalt oder gezeichnet. Als er angefangen hat, in New York zu arbeiten, da hatte er eigentlich geplant, mit der Fotografie das nötige Geld zu verdienen, um seine Karriere als Maler voranzutreiben. Die Schau im Fotografie Forum zeigt deshalb nun auch Gemälde und Skizzenbücher des Künstlers.

In Pittsburgh kam Saul Leiter 1923 zur Welt. Sein Vater war Talmud-Gelehrter und Rabbiner. Die Tradition sieht es vor, dass sein Sohn ihm nachfolgen soll. Doch Leiter träumt von einem Leben als Künstler. Schon als Jugendlicher beginnt er mit der Malerei. Unterstützung von der Familie bekommt er nicht. „The lowest of the low": So sieht Saul Leiters Vater den Beruf des Fotografen -- und daraus macht er auch nie ein Geheimnis. Der Fotograf leidet unter dieser Geringschätzung bis zu seinem Lebensende.

Der Fotograf entwickelt ein unglaubliches Gespür für die Farben

1946 geht er nach New York, zieht ins East Village. Hier startet er seine Streifzüge mit der Leica-Kamera. Sein komplettes fotografisches Oeuvre wird hier entstehen, im Viertel der Künstler und Unangepassten. Im Grunde waren es wohl nicht mehr als drei oder vier Straßenzüge, in denen Leiter unterwegs war, um seine Aufnahmen zu machen. Es ist die große Zeit der Straßenfotografie. Doch anders als seine berühmten Kollegen wie Robert Frank, Helen Levitt oder Henri Cartier-Bresson interessiert sich der Autodidakt Leiter wenig für die sozialen Umstände, in denen seine Porträtierten leben, sondern vor allem für Formen, Atmosphäre und Kontraste. Am Anfang sind es ausschließlich Schwarzweißbilder, die er anfertigt. Bilder, die eine Nähe zur Fotografie der Neuen Sachlichkeit oder die Foto-Experimente eines Man Rays erkennen lassen. Ein frühes Bild zeigt eine Reihe Straßenlaternen. Hart sind die Kontraste. Der Himmel verliert jede Kontur. Er wird zur reinen weißen Fläche, von der sich die schwarzen Laternen absetzen.

Bald wechselt Leiter zur Farbfotografie. In der künstlerischen Fotografie war der Gebrauch von Farbfilmen in den 1950er Jahren noch sehr verpönt. Farbbilder: Das war etwas für die Reportage- oder Hobbyfotografen, aber nichts für ernst arbeitende Künstler. Leiter widersetzte sich diesem Diktat -- und seine Werke werden noch freier, noch experimenteller, noch intensiver. Er entwickelt ein unglaubliches Gespür für die Farben, weiß ganz genau, welches Ergebnis er haben will. Wenn es schneit, wenn es regnet, wenn der Himmel grau ist, dann zieht er am liebsten los. Dann stimmen für ihn die Farben perfekt.

Henry Wolf, der berühmte Art Director von „Esquire" und „Harper' Bazaar" war einer, der Saul Leiter früh entdeckte und förderte. Er engagierte ihn, um Mode zu fotografieren. Was Leiter ablieferte, war spektakulär und sprengte die Grenzen der damaligen Modefotografie. Leiter ging mit den Models auf die Straße, inszenierte nichts, sondern überließ bei seinen Shootings vieles dem Zufall. Ihm ging es bei seinen Bildern nie darum, ein Kleidungsstück möglichst detailliert abzubilden. Was er einfangen wollte, waren Atmosphäre und Stimmungen. Die Wirkung des Bildes: Das ist das, was Leiter zuallererst interessiert. „Ich fotografiere gerne Mode, aber ich möchte nicht, dass ich einzig als Modefotograf in Erinnerung bleibe", soll er einmal gesagt haben. Seine Leidenschaft für Formen und Farben war ihm wohl immer wichtiger als eine steile Karriere. Als „Meister der verpassten Gelegenheiten" hat ihn Henry Wolf bezeichnet. Umso schöner, dass Leiter im Alter doch noch vom Ruhm kosten durfte.