Die Austellung "Baby du Champ" von Il-Jin Atem Choi im 1822-Forum in Frankfurt lässt Matthias Ulrich über die Moral der künstlerischen Praxis nachdenken.

Baby du Champ hat keine Wahl. Es teilt das Schicksal mit einem Urinal, das ein gewisser Herr Mutt hergestellt hat und das von einem gewissen Marcel Duchamp ausgestellt worden ist. Erst dadurch, dass das Urinal nicht in einer Toilette gelandet ist, sondern in einem Ausstellungsraum, konnte es mit einem Kunstwerk verwechselt werden. Nicht seine Herstellung, so die Behauptung von Duchamp, ist für die Qualität eines Kunstwerks von Bedeutung, sondern die von dem Künstler getroffene Wahl, das Urinal und nicht alles andere als Kunstwerk auszustellen. Auch Baby du Champ, das ja, wie oben erwähnt, keine Wahl hatte, ist schließlich ausgewählt worden, nicht um als Kunstwerk ausgestellt zu werden, sondern um seines Vaters Interesse an Ausstellungen zu begleiten und zu dokumentieren. Und weil diese Dokumentation seines Interesses an Ausstellungen den Weg in einen Ausstellungsraum gefunden hat und der Vater respektive Künstler die Ausstellung mit den dokumentarischen Fotografien von Baby du Champ genauso betitelt, nämlich „Baby du Champ", handelt es sich bei dem fotografierten Kleinkind in diversen Ausstellungen, in denen alles andere nur nicht das Kleinkind ausgestellt ist, offenbar nicht um ein Urinal und auch nicht um ein Readymade à la „Fountain" von Marcel Duchamp. Aber worum handelt es sich dann?

Das digitale Tagebuch zu „Baby du Champ" gibt folgenden Aufschluss, dass nämlich das Kleinkind namens Baby du Champ in Frankfurt am Main lebt und es mag, wenn von ihm Fotos in Ausstellungen gemacht werden. Offenbar mag es Baby du Champ auch, wenn es von jemandem für eigene Zwecke instrumentalisiert wird, weil weder davon auszugehen ist, dass das Kleinkind von geschätzten zwei Jahren schon schreiben und eine eigene Website verwalten kann, noch sich besonders für Ausstellungen interessiert. Letzteres beruht auf bloßer, distanzierter Annahme und gleicht wissenschaftlichen Spekulationen über sprachlose Dinge und Lebewesen im Allgemeinen. Tatsächlich zeigt Baby du Champ auf den ausgewählten Fotografien keine auffälligen Zeichen von Missfallen, im Gegenteil scheint es sich neugierig oder amüsiert bis hin zu indifferent in den White Cubes zu verhalten. Eine solche Spannbreite findet sich auch bei einem erwachsenen Publikum von Ausstellungen, das sich neuerdings auf ähnliche Weise wie Baby du Champ fotografieren lässt beziehungsweise selbst fotografiert, um ihre kulturellen Aktivitäten mit anderen, die sich für dieselben Aktivitäten interessieren, zu teilen. „It's the technology, stupid", der wir diesen evolutionären Schritt in der Geschichte des Selbstporträts verdanken und die uns den ausgeleierten Begriff von der Handlung neu denken lässt. Nicht in der Weise neu denken, dass mit der Betonung auf Handlung eine neue Facette des Porträts, wenn nicht sogar der Kunst überhaupt, gefunden wäre, jedoch insofern, dass die von Duchamp getroffene Differenz von Produktion und Selektion nicht einer Entscheidung bedarf, um entweder als Kunst oder als Gebrauchsgegenstand zu gelten, sondern die Anwesenheit von beiden -- wie es, wenn man genau hinschaut, auch schon beim Urinal der Fall gewesen ist.

Die Frage, die wir uns beim Anblick von Baby du Champ also stellen, betrifft die spezifische Kopplung von Produktion und Selektion. Handelt es sich bei Baby du Champ um ein Readymade, das heißt um einen Gebrauchsgegenstand, der originär nicht als Kunst produziert worden ist, jedoch durch die Auswahl des Künstlers zum Kunstgegenstand transformiert werden konnte? Ein Gegenstand kann in der Terminologie der Kunstbetrachtung sehr wohl auch ein Mensch beziehungsweise ein Lebewesen sein. Daher sind es auch weniger die Fotografien von Baby du Champ, auf denen es agiert, die den Vergleich eines Menschen mit einem Gegenstand provozieren, sondern es sind die Objektivierungen eines Menschen innerhalb eines Kontextes, der von ihm Gebrauch macht. Der Kontext ist der Ausstellungsraum, der alles, was in ihm ausgestellt wird, automatisch als Kunst erscheinen lässt. Wird Baby du Champ also ausgestellt oder befindet es sich nur zusammen mit seinem Vater, einem Künstler, in einer Ausstellung? Von einem Menschen als Readymade handelt das erste lebende Kunstwerk aus dem Jahr 1961, das aus einem lebenden Menschen bestand, welcher sich in einem Museum auf einem Stuhl auf einem Sockel unter einer Glashaube präsentierte. Autor und gleichzeitig Akteur dieser Performance war Timm Ulrichs (und eine weitere Ausstellung dieses Kunstwerks wurde 1965 mit dem Verweis auf das Zollgesetz, nach dem ein Kunstwerk vollständig von Hand geschaffen sein müsse, untersagt!).

Der wie Duchamps „Fountain" ausgestellte Mensch Timm Ulrichs erscheint wie ein Gegenstand, wie ein Artefakt, das als Kunstwerk verwechselt werden kann und verwechselt werden will. Im Falle von „Baby du Champ" konfrontiert uns der Künstler weniger damit, ob es sich bei seinem in Ausstellungen fotografierten Kleinkind um ein Subjekt oder Objekt handelt. Hoppla! -- Bewegt sich mein Text bis hierher nicht genau auf diesem moralischen Glatteis? Ist er nicht sichtlich bemüht, die Spur zu halten und nicht auszurutschen? Wie komme ich mir eigentlich vor, darüber nachzudenken, ob etwas Kunst ist oder nicht, und dabei nicht in Erwägung zu ziehen, dass die Bedeutung von „Baby du Champ" über seine indexikalische Bedeutung hinausgeht und hinausgehen muss? Hat am Ende der Künstler genau eine solche Diskussion über die Moral der künstlerischen Praxis führen wollen und hierfür eine vermeintliche Harmlosigkeit gewählt? Ist „Baby du Champ" geradezu das Schweigen des Il-Jin Atem Choi und die Herausforderung an seine Betrachter, über Unter- oder Überbewertung des aktuellen Selfie-Phänomens nachzudenken?