Neben dem Island-Schwerpunkt in der SCHIRN fand sich auch ein beachtenswerter isländischer Künstler in Berlin: Kolbeinn Hugi. Julia Wirxel, die im Katalog zur Ausstellung „Crepusculum“ vertreten ist, hat seine erste Einzelausstellung in Deutschland kuratiert. Eine Review.

In der Köpenicker Straße 159 im Berliner Stadtteil Kreuzberg birgt ein gewöhnliches Wohnhaus einen interessanten Projektraum: Unter dem Namen „Minken & Palme“ dient eine Etagenwohnung als Experimentierfeld für zeitgenössische Kunst. Gerade sind dort die Arbeiten des Isländers Kolbeinn Hugi zu sehen. Kuratorin Julia Wirxel war vergangenes Jahr als Stipendiatin des Goethe-Instituts in der jungen Kunstszene Islands unterwegs und stieß dort auf Hugis Arbeiten. Sie lud ihn ein, sich im Rahmen des Programms „Sagenhaftes Island“ zur Frankfurter Buchmesse in einer Einzelausstellung zu präsentieren.

Mit isländischer Kunst setzt sich Julia Wirxel schon seit einigen Jahren auseinander: „Ausschlaggebend war mein Besuch der Biennale in Venedig 2005, wo ich auf die Arbeit von Gabríela Friðriksdóttir stieß, die damals den isländischen Pavillon gestaltet hatte. Ich fand es interessant, jetzt einen noch wenig bekannten Künstler aus Island nach Deutschland zu holen.“ Der 31-jährige Kolbeinn Hugi hat im Jahr 2004 sein Studium an der Iceland Academy of the Arts abgeschlossen und schon in New York und Rotterdam ausgestellt. Seine Position gibt Einblick in die ganz junge Szene. „Krautpleaser“ hat er seine erste Einzelausstellung in Deutschland genannt, denn aus der Stereoanlage des Künstlers tönt auch mal deutscher „Krautrock“, eine Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre, die mit psychedelischen Klängen experimentierte.

Kolbeinn Hugi, „Ellipsepilepsy II: the Prodrome“

Ein aggressiver und poetischer Dialog

Rein in die Wohnung, Licht aus, Nebelmaschine an – und schon steht man inmitten einer beeindruckenden Lichtinstallation, die jedes Raumgefühl auflöst. Zwei sich gegenüberliegende Projektoren werfen schnell rotierende Kreise an die jeweilige Wand. Dazu füllt eine Soundcollage den Raum mit synthetisch verzerrten Klängen. Durch den Nebel bilden die Lichtkegel der Projektionen einen zitternden Lichtkorpus. Der Betrachter kann ihn von außen anschauen oder durchdringen und sich ganz in der rauschenden Installation verlieren. Sie ist denkbar abstrakt und evoziert doch zahlreiche Assoziationen: eine schnelle Fahrt mit einem Rennwagen in einen Tunnel, ein Flugzeug auf der Startbahn oder auch Szenen aus der Clubkultur. Hugi nannte die Arbeit aus dem Jahr 2010 „Ellipsepilepsy II: the Prodrome“. Ein Prodrom ist ein Frühsymptom, das sich im Vorfeld einer Krankheit einstellt. Es hat Hugi fasziniert, dass eine Lichtinstallation dieser Art epileptische Anfälle auslösen kann. Als Kuratorin Julia Wirxel sie im isländischen Projektraum „Sudsudvestur“ entdeckt hatte, war sie gleich begeistert: „Es ist ein aggressiver und zugleich poetischer Dialog von Projektion und Räumlichkeit, Bewegung, Licht und Musik.“

Die Installation hinterlässt den Betrachter in einem leicht berauschten Zustand, der gerade richtig ist, um im Anschluss Hugis psychedelisch anmutende Filzstiftzeichnungen zu betrachten. Der kleine Flur des Berliner Projektraums, in dem sie eng nebeneinander hängen, zwingt die intime Betrachtung geradezu auf. Eine wunderbare Gelegenheit, die kleinformatigen Arbeiten intensiv zu studieren. Große Augen, aufgerissene Münder, dicke Tränen, Sonnenbrillen, leuchtendes Orange, sattes Lila, knalliges Gelb: Der comicartige Stil, die detailliert befüllte Zeichenfläche und die intensive Farbgebung erinnern an das Werk Errós, aber auch an zeitgenössische Illustrationen aus der Grafikszene, etwa japanisches Character Design. Julia Wirxel sieht in Hugis Zeichnungen „götzenhafte Wesen, Gottheiten einer unbekannten Kultur“.

Frisch aus der Farbtube gedrückt

Hugi ist Musiker und hat bereits in diversen isländischen Bands gespielt, und das ziemlich erfolgreich: Er räumte mehrere Preise ab, etwa den Icelandic Music Award 2010 für das beste Album mit seinem Band-Projekt Retron, das Death Metal und Electro verbindet. Dass Musik auch eine besondere Rolle in seinen Arbeiten spielt, wird vor allem in seinen Videos deutlich. Ein Projektor wirft sie an die Wand des kleinen Badezimmers bei „Minken & Palme“. Eine schräge Inszenierung der vier zwischen 2005 und 2010 entstandenen Arbeiten.

Rockmusik, elektronische Musik und Klassiker wie der Song „Take My Breath Away“ aus dem Soundtrack des Films „Top Gun“ von 1986 begleiten digital bearbeitetes Bildmaterial und wecken Assoziationen. Eine der Arbeiten wirkt selbst wie ein Musikvideo aus den 1980er-Jahren: Die Kamera fängt wechselnd die Gesichter zweier junger Männer ein, die neonfarbene Brillen tragen wie man sie häufig in Technoclubs über die Tanzfläche wippen sieht. In den Gläsern spiegelt sich ein digitaler Himmel, im Hintergrund zieht eine karge Landschaft vorbei, dazu laufen experimentelle synthetische Klänge. Dicke pinkfarbene Tränen quellen wie frisch aus der Farbtube gedrückt unter den Brillen hervor und laufen langsam über die Gesichter, Linien und Farbflächen tauchen darauf auf. Die Musik wird rhythmischer und treibender, die dicke Farbe tropft schließlich auch aus dem Mund. „Kolbeinn Hugis Ästhetik hat etwas Kitschiges, Trashiges. Er überspitzt die Klischees verschiedener Musikstile“, erläutert Julia Wirxel.

Die Videoarbeiten und die Lichtinstallation haben etwas Berauschendes, Psychedelisches und Exzessives gemeinsam. Ein Strudel audiovisueller Informationen überreizt die Sinne und versetzt den Betrachter fast in einem hypnotischen Zustand. Hugis Zeichnungen übersetzen die klirrende Vielfalt digital manipulierter Bilder und Töne in ein analoges Pendant. „Krautpleaser“ zeigt eine junge, gerade reifende Position aus Island mit viel Potenzial.