In New York zeigt die Ausstellung „Faking it – Manipulated Photography before Photoshop“, wie erfinderisch Künstler seit Beginn der Fotografie mit den Möglichkeiten des Mediums umgingen.

Gustave Caillebotte wurde 1848 in eine anschwellende Bilderflut hineingeboren. Nicht einmal zehn Jahre nachdem in Paris das erste fotografische Verfahren vorgestellt worden war, riss man sich allerorts um das neue Medium. Es erfüllte den lang gehegten Wunsch, die Wirklichkeit abzubilden. Allerdings nur vermeintlich, denn seit Beginn der Fotografie griff man nicht nur vor der Kamera in Form von aufwendigen Inszenierungen ein, sondern manipulierte auch die Platte oder das Negativ -- lange bevor es Bildbearbeitungsprogramme gab. Die Ausstellung „Faking it -- Manipulated Photography before Photoshop" im New Yorker Metropolitan Museum of Art zeigt gerade über 200 Arbeiten, die nur auf den ersten Blick wie Momentaufnahmen aussehen.

Neben von Hand mit Wasser- oder Ölfarbe kolorierten Arbeiten, Mehrfachbelichtungen und minutiös mit Spezialbürsten retuschierten Porträts zeigt die Schau, wie kreativ Künstler technische Unzulänglichkeiten überwanden. Herausforderungen wie lange Belichtungszeiten oder auch unterschiedlich lichtempfindliche Emulsionen auf den Bildträgern schränkten die Möglichkeiten bei der Aufnahme enorm ein. Also legte man im Nachhinein Hand an und erzielte malerische Ergebnisse.

Falsche Wolken

Der Franzose Gustav Le Gray etwa, ausgebildeter Maler und legendärer Fotokunstpionier, fand einen Weg, sich die Kraft seiner Mitte des 19. Jahrhunderts angefertigten Landschaftsaufnahmen nicht von einem meist stark überbelichteten Himmel nehmen zu lassen. Er kombinierte einfach zwei verschiedene Ansichten, eine mit der gewünschten Landschaft und eine mit einem kontrastreichen Himmel voller Wolken. Diese dramatisch wirkenden Bilder inspirierten Legenden wie den Maler Gustave Courbet und werden heute zu Höchstpreisen gehandelt. Im Rahmen der Caillebotte-Ausstellung in der Schirn ist seine Arbeit „Blick auf das Meer" aus dem Jahr 1856 zu sehen, und darüber hinaus diverse Bilder seiner Schüler Olympe Aguado und Henri Le Secq, an die er sein in zahlreichen Experimenten gesammeltes Wissen weitergab.

Technische Probleme machten es oft unmöglich, mehrere Personen gemeinsam in einem Raum abzulichten, erst recht wenn dem Künstler eine komplexe, von Gemälden inspirierte Komposition vorschwebte. So entstand zum Beispiel Henry Peach Robinsons berühmtes Tableau „Fading Away" im Jahr 1858 ebenfalls durch Montage. Der englische Fotograf hatte zuvor alle beteiligten Personen und das abgebildete Zimmer einzeln fotografiert und die Teile später zusammengefügt. Das Ergebnis, ein im Sterben liegendes Mädchen in der Mitte des Raums umringt von trauernden Angehörigen, ist eine perfekt arrangierte Szene. Damit fachte Robinson die damals noch heftig geführte Diskussion zu Wesen und Rolle der Fotografie an, die viele in erster Linie in der Abbildung von Wirklichkeit sahen.

Während Theoretiker und Künstler debattierten, wuchs sich die manipulierte Fotografie zu einem beliebten Genre aus. Auf einem Bild aus dem Jahr 1880 jongliert ein Mann mit sieben Exemplaren seines eigenen Kopfes, ein unbekannter Künstler montierte dafür Teile verschiedener Negative zusammen. Trickmontage war äußerst beliebt, vor allem das Motiv des abgetrennten Kopfes. Der Zauberer und Filmpionier George Méliès produzierte 1902 mit „L'homme à la tête de caoutchouc" einen visionären Film: Ein Forscher klont seinen Kopf und hält ihn künstlich am Leben. Caillebottes Zeitgenossen amüsierten sich köstlich und erfreuten sich an den Möglichkeiten des Mediums. Und nur wenigen Künstlern war daran gelegen, die Wirklichkeit so abzubilden, wie sie war. Dass das Medium vordergründig gerade diese Funktion zu erfüllen schien, animierte erst recht zu Spielereien. Auf einem um 1900 entstandenen Doppelporträt von Maurice Guilbert sitzt sich der Maler Henri de Toulouse-Lautrec selbst Model.

Surrealistische Fotomontagen imitieren Träume

Einen Höhepunkt erreichten Montagen dieser Art Jahrzehnte später, als die Surrealisten entdeckten, wie gut manipulierte Foto- und Filmbilder die Ästhetik von Träumen transportieren. Die Bewegung war so erfolgreich, dass sich bald auch in der visuellen Mainstream-Kultur jede Menge surrealistisch anmutende Motive fanden. Das Bild eines unbekannten Künstlers aus dem Jahr 1930 zeigt einen Mann auf einem Hochhaus, der elf symmetrisch verschränkte Herren auf seinen Schultern balanciert. Der französische Fotokünstler Maurice Tabard versah für „Room with Eye" im gleichen Jahr die Aufnahme eines leeren Raumes mit einem überdimensional großen Auge, das aus einer Wand heraus auf die gegenüberliegende Wand starrt. Auch die Arbeit „Dream No. 1: Electrical Appliances for the Home" der Künstlerin Greta Stern steht in dieser Tradition. Eine Frau posiert als Lampenfuß unter dem Schirm, eine männliche Hand knipst das Licht an. Es ist eine von 140 Fotomontagen, die Stern für ein Frauenmagazin schuf. Leserinnen schickten ihre Träume ein, diese wurden dann analysiert und von Stern illustriert.

Was 1948, dem Entstehungsjahr dieser Arbeit, noch spektakuläre Handarbeit war, wurde rund 40 Jahre später zum digitalen Standard: 1990 brachte der Softwarehersteller Adobe Photoshop auf den Markt. Manipulation wurde komplexer und facettenreicher -- aber im Ergebnis nicht deutlich anders als zuvor. Die Ausstellung im Metropolitan Museum of Art gibt einen spektakulären Einblick in kreative Eingriffe aus über 100 Jahren Fotografiegeschichte. Zurück bis in die Zeit, als die Fotografie ihre ersten Schritte machte und Caillebotte zu wegweisenden Kompositionen bewegte, die wiederum viele Fotokünstler inspirierten.