Die 55. Biennale in Venedig eröffnete bei strömendem Regen: Wer jedoch die nötige Zeit mitbringt, für den gibt es in dieser Stadt während dem wichtigsten internationalen Kunstereignis auch bei schlechtem Wetter viel zu entdecken.

Wie überall in Europa, so war das Wetter auch während der Eröffnungstage der 55. Biennale in Venedig schlecht. Die Cocktail-Empfänge in den wunderschönen Venezianischen Gärten fanden nicht unter Sonnen-, sondern unter Regenschirmen statt, und selbst den geübtesten High-Heel Trägerinnen fiel es schwer, im Schlamm der Giardini Haltung zu bewahren. Trotz nasser Füße lohnte sich das Anstehen: Massimiliano Gioni ist mit „Il Palazzo Enciclopedico/The Encyclopedic Palace“ eine für eine Großausstellung bemerkenswert kohärente und in sich stimmige Präsentation gelungen.

Ausgehend von der Idee einer Enzyklopädie zeigt die Ausstellung im Zentralen Pavillon der Giardini und im Arsenale unterschiedliche Ansätze, menschliches Wissen visuell zu repräsentieren und organisieren. Es kann sich dabei sowohl um abstrakte Konzepte, ideologische Manifeste oder übernatürliche Phänomene handeln. Neben etablierten Positionen aus der Kunstwelt zeigt der italienische Kurator auch viele Arbeiten von Autodidakten. So zum Beispiel Anna Zemeankova, 1908 in Moravien geboren, die, als sie in den 1950er-Jahren in eine schwere Depression fiel, auf Anregung ihres Sohnes anfing zu zeichnen. Im musealen Setting des Zentralen Pavillons wirken die filigranen Zeichnungen von Blumen, die “kein anderer je gezüchtet hat”, berührend intim.

Nicht unweit von Zemeankovas Zeichnungen befinden sich eine surrealistische Rauminstallation der Britischen Künstlerin Cathy Wilkes und die eher zynischen Zeichnungen Henrik Olesens. Trotz des augenscheinlichen Kontrasts der ausgestellten Arbeiten wirkt „The Encyclopedic Palace“ keinesfalls chaotisch oder beliebig. Im Gegenteil, Gionis Ausstellung zeugt von einer Sehnsucht, Ordnung in die Informations- und Bilderflut des 21. Jahrhunderts zu bringen. „The white noise of the information age“, wie der Kurator es nennt.

Eine interessante Parallele zu Gionis Ausstellung bietet das von der Fondazione Prada initiierte Ausstellungsprojekt „When Attitudes Become Form“, Bern 1969/Venice 2013. Der von Gioni in Ansätzen thematisierte theatrale Akt des Aufführens und Wahrnehmens von Ideen wird in der Re-inszenierung von Harald Szeemanns sagenumworbenen Ausstellung auf die Spitze getrieben. Dass es sich hier um ein Gemeinschaftsprojekt zwischen einem Kurator (Germano Celant), einem Künstler (Thomas Demand) und einem Architekten (Rem Koolhas) handelt, ist bezeichnend, impliziert das Ausstellen einer Ausstellung doch explizit die von Szeemann ausschlaggebend beeinflusste neue Rollenverteilung in der Kunstwelt.

Um ein möglichst authentisches Ausstellungserlebnis zu ermöglichen, haben Celant, Demand und Koolhas sich entschieden, neben der ausgestellten Werke, auch Wandfarbe, Türrahmen, Treppen und Bodendielen der historischen Ausstellung in Bern zu übernehmen. Werke, die verloren gegangen sind, werden durch weiße Linien markiert. Szeemanns Präsentation ist auffällig dicht gesetzt, von minimalistischer Ästhetik keine Spur. Die schlichten Räume der Kunsthalle Bern scheinen den Venezianischen Palazzo fast zu sprengen. Interessanterweise wirkt „When Attitudes Become Form“ dadurch fremder als erwartet, handelt es sich doch um eine Ausstellung, an die wir uns alle zu erinnern glauben, obwohl kaum einer von uns sie gesehen hat.

Bei den Länderpavillons stachen in diesem Jahr vor allem die Videoarbeiten hervor. So beeindruckte Jesper Justs Arbeit „Intercourses“ im Dänischen Pavillon mit ruhigen schwarz-weißen Aufnahmen, welche Themen der Fremdheit und kulturelle Diskrepanz in Großstädten verhandeln. Die fünfkanalige Videoinstallation arbeitet dabei den Kontrast zwischen Mensch und Architektur mit viel Sorgfalt und Einfühlsamkeit heraus. 

Ein persönliches Highlight war auch Akram Zaataris Film „Letter to a Refusing Pilot“ im Libanesischen Pavillon. Der 16mm-Film erzählt die Geschichte eines israelischen Kampffliegers, der sich weigert, eine Bombe auf das ihm zugewiesene Ziel im Libanon zu werfen, als er erkennt, dass es sich dabei um eine Schule handelt. Zaatari thematisiert in seinem Film die Kraft persönlicher Entscheidungen im Angesicht egalitärer Staatsmächte und fragt sich, ob es möglich ist, „das eigene Land und Gerechtigkeit zugleich zu lieben“.

Gefallen hat mir auch Jeremy Dellers Installation „English Magic“ im Britischen Pavillon. Ursprünglich ein gelernter Kunsthistoriker, beschäftigt sich Deller in seinen Arbeiten mit sozialen und kulturellen Bedingungen seines Ausstellungsortes. Für seinen Beitrag in der diesjährigen Biennale beauftragte er seinen Freund und Graffitikünstler Stuart Sam Hughs eine riesige Wandmalerei im Eingangsbereich des Britischen Pavillons anzubringen. Sie zeigt einen überdimensional großen, äußerst wütenden William Morris die Yacht des Öloligarchen Roman Abramovich ins Meer werfen. Die Yacht hatte 2011 für Aufsehen gesorgt, als sie direkt vor den Giardini geparkt, die Sicht aufs Meer versperrte. Deller eröffnet damit die Diskussion über die Verortung von Macht in der Kunstwelt, welche sich durch die restlichen Räume des Pavillons hindurchzieht.

Ingesamt haben dieses Jahr 88 Nationen an der Biennale in Venedig teilgenommen, zehn davon zum ersten Mal. Diejenigen, welche keinen Pavillon in den Giardini oder im Arsenale haben, liegen quer durch die Stadt verteilt. Und so ist das, was man nach Venedig mitbringen sollte, vor allem Zeit: Zeit, Altbekanntes zu vertiefen und Neues zu entdecken, Zeit für den persönlichen Austausch mit Freunden, Bekannten und Kollegen, Zeit aber auch für diese wunderbare Stadt mit ihren verwinkelten Gassen, für die vielen Brücken und für das Nachschwanken der Vaporetti.