Aufarbeitung diversifizieren: Mit künstlerischen Interventionen beleuchtet das NS-Dokumentationszentrum München die Selbstermächtigung der queeren Community in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zugleich zeigt es die gewaltsame Zerschlagung der erkämpften Freiräume durch die NS-Diktatur.

Trotz intensiver historischer Aufarbeitung bleiben viele Wirkweisen der NS-Diktatur zu wenig berücksichtigt, so auch die strukturelle Verfolgung und Tötung queerer Menschen. Die Tatsache, dass der Bundestag erstmals im Jahr 2023 am Holocaust-Gedenktag diese Opfergruppe mitbedenken wird, zeigt die Leerstellen innerhalb des Diskurses und verdeutlicht die Dringlichkeit ihrer Sichtbarmachung.

Der Lern- und Erinnerungsort NS-Dokumentationszentrum München macht sich seit seiner Öffnung 2015 zur Aufgabe, nicht nur die lokale Geschichte des Nationalsozialismus offenzulegen, sondern ausgehend davon mit Ausstellungen, künstlerischen Interventionen, einem Vermittlungsprogramm und zahlreichen Veranstaltungen Brücken ins globale Jetzt zu schlagen. Die Wechselausstellungen verschränken sich thematisch und häufig auch räumlich mit der historischen Dauerausstellung, die eine umfangreiche Darstellung der Anfänge und Folgen des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart umfasst. Differenziert und vielperspektivisch setzt die Institution darin auch Schwerpunkte, die auf einzelne Gruppen eingehen, die während der NS-Diktatur und darüber hinaus verfolgt wurden und ihr zum Opfer fielen. 

Zwischen historischer Betrachtung und künstlerischer Intervention

Das Projekt „TO BE SEEN, queer lives 1900-1950“ nimmt sich diesem Thema an und veranschaulicht die Absicht der Institution, historische Lücken zu füllen. Sie erzählt die Entwicklungen, Selbstermächtigungsversuche und Rückschläge der queeren Community in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wichtig war es den Macher*innen, nicht allein die Verfolgungsgeschichte(n) zu erzählen, sondern auch ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit sowie die Räume der Community in der Öffentlichkeit, die ab der Jahrhundertwende sichtbarer wurden, mit einzubinden.

Neben dem gut gegliederten historischen Teil bestehend aus zugänglichen Texten und Archivmaterialien – darunter Tagebucheinträge, Magazine, Briefwechsel, Dokumente sowie Fotografien – lassen sich auch künstlerische Werke finden, die zeitlich von 1916 bis heute reichen. Diese hybride Form aus historischer Betrachtung und künstlerischen Interventionen nutzte die Institution bereits in vergangenen Projekten, um unterschiedliche Formen des Erinnerns erfahrbar werden zu lassen, etwa bei der Ausstellung „Tell me about yesterday tomorrow“, die aktuelle künstlerische Positionen in den Dialog mit der institutionellen Erinnerungsarbeit brachte.

Philipp Gufler, Künstler und aktives Mitglied im Forum Queeres Archiv München e.V., zeigt in „TO BE SEEN, queer lives 1900-1950“ einige seiner Quilts, sechs davon bereits im Eingangsbereich. Die Siebdruckarbeiten auf Stoff erinnern an queere Magazine, Persönlichkeiten und Orte. Ihnen geht immer eine sorgsame Forschung voraus. Seit 2013 recherchiert Gufler am selbstorganisierten Forum Queeres Archiv München zur Kultur und Geschichte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen und intersexuellen Personen. Für dieses Projekt beschäftigte er sich mit dem Tänzer Alexander Sacharoff, der Künstlerin Lil Picard, der Sexuologin Charlotte Wolff sowie dem Spiritualisten und Maler Elisar von Kupffer. Und auch für die inhaltliche und kuratorische Ausarbeitung der Ausstellung nahm Gufler zusammen mit dem Forum Queeres Archiv eine wesentliche Rolle ein. 

Die Videoarbeit „Something traced and diverging“ von Katharina Aigner übersetzt vier Objekte – ein Taschentuch, ein Ring aus Draht, ein abgebrochener Kamm und ein Stoffherz – in digitale Artefakte. Die Gegenstände wurden in der Mahn‑ und Gedenkstätte Ravensbrück gefunden, doch ist nur wenig über sie bekannt. Mit der Loslösung aus räumlichen und zeitlichen Bezügen fragt die diesjährig entstandene Arbeit, was die Gegenstände ohne ihre Besitzer*innen über Verfolgung, Widerstand und queeres Begehren erzählen können.

Philipp Gufler, Quilt # 50  (Lil Picard), 2022 | Courtesy the Artist
und Galerie BQ Berlin, Image via nsdoku.de

Lena Rosa Händle zeigt im Untergeschoss die neu entstandene fotografische Arbeit „Diese Hände – eine Welt ohnegleichen“, bestehend aus drei Portraits einer Frau mit unterschiedlichen Gesten und einem mitnehmbaren Poster mit Ausschnitten aus dem Text „Hände“ der Schauspielerin Valery Boothby von 1929. Das Zusammenspiel aus Fotos und dem Geschriebenen öffnet sich zu einer größeren Erzählung über lesbische Codes und Begehren. Neben diesen Arbeiten finden sich Werke von Henrik Olesen, Pauline Boudry und Renate Lorenz, Claude Cahun, Elisar von Kupffer, Jonathan Penca, Germaine Krull, Wolfgang Tillmans und Maximiliane Baumgartner im ganzen Haus verteilt und geben Einblicke in die künstlerische Auseinandersetzung mit queeren Leben.

Neue Freiräume der queeren Community...

Viel Raum nimmt die Weimarer Republik in der Ausstellung ein. Diese Zeit war nicht nur geprägt von einem neuen Frauenbild, wie es unter anderem in der Ausstellung GLANZ UND ELEND IN DER WEIMARER REPUBLIK 2017/18 in der SCHIRN nahegebracht wurde, sondern auch von einer wachsenden Sichtbarkeit der LGBTIQ+ Community begleitet. Seit der Jahrhundertwende, mit einem vorläufigen Höhepunkt in den 1920er-Jahren, erkämpften sich queere Menschen immer mehr Freiräume. Im Berlin der 1920er-Jahre existierten bereits 200 queere Bars und Clubs, darunter etwa 80 für Lesben. Magazine wurden veröffentlicht, es entstanden Netzwerke und eine queere Subkultur, die jedoch immer wieder ausgebremst wurden, sei es durch Zensur, Schließungen oder Strafverfolgung. Im konservativen München waren diese Räume überschaubarer, aber auch hier schufen Persönlichkeiten, wie beispielsweise Anita Augspurg und Sophia Goudstikker mit dem Atelier Elvira eigene Räume und standen für Selbstbestimmtheit und ein selbstbewusstes queeres Leben ein.

Lena Rosa Händle, Diese Hände – eine Welt
ohnegleichen, 2022 | Courtesy the Artist, Image via nsdoku.de

Ein anderer Ausstellungsschwerpunkt ist die frühe Sexualwissenschaft und das private Institut der Sexualwissenschaft in Berlin, das 1919 von Magnus Hirschfeld gegründet wurde. Hier wurden erste Operationen für trans* Personen durchgeführt. Es wurde zu einem wichtigen Ort für die Wahrnehmung und erste Anerkennung von weiteren Geschlechtsidentitäten sowie eine Art Safe Space für trans* Personen, die dort lebten und sich untereinander austauschen konnten. Gleichzeitig hatte die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschlechtsidentitäten zur Folge, dass die behandelten Personen staatlich kontrolliert werden konnten und auf den sogenannten Rosa Listen erschienen, welche die Verfolgung queerer Personen für die Nationalsozialist*innen erheblich vereinfachten.

... und ihre Zerschlagung

Die Erfolge der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die zu mehr Sichtbarkeit von Geschlechtsidentitäten und homosexuellem Leben in der Gesellschaft führten, wurden mit der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen wieder zerschlagen. Queere Menschen wurden gezwungen, sich anzupassen und ihre Identität zu verleugnen. Scheinehen wurden geschlossen, Treffen untereinander waren nur noch auf den Privatraum begrenzt und viele mussten ins Exil gehen, wurden verhaftet und einige auch ermordet. Angesehene Persönlichkeiten wurden geduldet und für die nationalsozialistische Propaganda genutzt. Das umfangreiche Material in der Ausstellung zeigt die strukturelle Verfolgung in all ihren Facetten.

Unter dem Titel „Transvestiten vor dem Eingang des Instituts für Sexualwissenschaft“ veröffentlichte Fotografie, aufgenommen anlässlich der Ersten Internationalen Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage, Berlin 1921 bpk / Kunstbibliothek, SMB, Foto: Willy Römer

Der ab 1871 bestehende §175, der sexuelle Handlungen unter Personen männlichen Geschlechts verbot und die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen ermöglichte, wurde 1935 verschärft. Ein Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm „Paragraph 175“ von 2000 zeigt den Zeitzeugen Heinz Fleischer, wie er seine Erfahrungen während und nach der Diktatur schildert. Erst mit 92 Jahren konnte er über seine Verfolgung und Verhaftungen sprechen. Der gezeigte Ausschnitt verdeutlicht das Trauma und den anhaltenden Schmerz, den auch das jahrzehntelange Schweigen nach 1945 durch die Stigmatisierung und Aufrechterhaltung der Strafverfolgung mit sich brachte. Die Ausstellung zeigt, dass nach 1945 die Geschichte der Diskriminierung und strafrechtlichen Verfolgung queerer Menschen keineswegs endet. Der §175 wurde erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch genommen. 

Auf unterschiedliche Weisen zu erinnern und nicht allein in der historischen Rückschau Vergangenes zugänglich zu machen, ist Anspruch des NS-Dokumentationszentrums und kommt auch in dieser Ausstellung zum Tragen. Die Herausforderung ist, der Erinnerungsarbeit in ihrer Komplexität Raum zu geben, sie in der Gegenwart zu verankern und zukünftig aufrechtzuerhalten. Strafrechtliche Verfolgung von und Diskriminierung gegen queere Personen sind immer noch Alltag. Die Erfahrung von Rückschlägen im Kampf um Gleichberechtigung und Anerkennung ist eine leidvolle Konstante ihrer Geschichte(n), die immer noch anhält. Auch wenn sich die Ausstellung zeitlich auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentriert, wird klar, dass es noch viele queere Geschichten zu erzählen und aufzuarbeiten gilt. Die Offenlegung ist eine wichtige Grundlage für ihre Erinnerung, dieses Projekt ein wesentlicher Beitrag.

Polizeifoto von Liddy Bacroff, aufgenommen nach einer Festnahme 1933 | © Staatsarchiv Hamburg, Image via nsdoku.de

TO BE SEEN. queer lives 19OO–195O

Noch bis zum 21. Mai 2023 im NS-Dokumentationszentrum München. Freier Eintritt

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