In „Zelluloid. Film ohne Kamera“ rückt die SCHIRN den direkten Film in den Blick. Seit den Anfängen der filmischen Avantgarde entstehen auf diese Weise Werke, die das filmische Bild in seiner materiellen Beschaffenheit erforschen.

Das Auftragen von Farbe auf Zelluloid zur Kolorierung von Schwarzweißfilmen war als handwerkliche Praxis bereits seit den ersten Tagen der Kinematografie gängig. Doch erst mit Beginn der filmischen Avantgarde wurden Versuche mit Farbe und Klarfilm auch als generatives Prinzip der Filmherstellung relevant. Die frühesten handgemalten Filme schufen die italienischen Futuristen Arnaldo und Bruno Ginanni-Corradini bereits zwischen 1910 und 1912.

Ganz im Geiste ihrer Zeit suchten die beiden Maler nach einer an den Prinzipien der Musik orientierten Form reiner visueller Abstraktion und begeisterten sich für die neuartigen Möglichkeiten des Films, eine „Musik der Farben“ zu schaffen. Von ihren neun direkt auf transparentes Zelluloid gemalten Animationen sind heute leider nur noch detaillierte Beschreibungen erhalten.

Anfang der 1920er-Jahre hat der surrealistische Fotograf Man Ray in einigen Sequenzen von „Le Retour à la Raison“ die von ihm bereits erprobte Technik des Rayogramms, also der direkten Belichtung von Gegenständen auf Fotoplatten, erstmals im Film angewandt.

Len Lyes „Farbkiste“

Als eigentliche Pioniere des sogenannten „direct film“ oder „cameraless film“ gelten der Neuseeländer Len Lye sowie der gebürtige Schotte Norman McLaren, die Mitte der 1930er-Jahre in Großbritannien mit unterschiedlichen Ansätzen begannen, die Möglichkeiten des „Films ohne Kamera“ systematischer zu ergründen, und deren Werke für nachfolgende Filmkünstler wegweisend wurden.

Ausstellungsansicht von „Zelluloid. Film ohne Kamera“

Len Lyes Film „A Colour Box“ entstand 1935 durch Malerei und Schablonenkolorationen abstrakter Formen direkt auf den Filmstreifen und gilt als eine Art Gründungswerk des Films ohne Kamera. Zu populärer lateinamerikanischer Musik synchronisiert unterschied sich dieser Film durch seine schillernde Farbkraft, seine ungewöhnlichen Texturen sowie ein charakteristisches Vibrieren und Pulsieren des projizierten Bildes von allem bis dahin Bekannten im Bereich des künstlerischen Films.

Die Tradition des „direct film“ wurde insbesondere im amerikanischen Avantgardefilm der Nachkriegszeit weitergeführt. Hier ist der Künstler, Filmemacher, Folkmusik-Sammler und Okkultist Harry Smith einer der schillerndsten Protagonisten des Genres. Im handgemalten Film entdeckt er Ende der 1940er-Jahre die Möglichkeit, seine mystisch inspirierte Malerei mit seinem Interesse für Musik zusammenzuführen.

Geprägt vom Werk und den Theorien Wassily Kandinskys, von Drogenerfahrungen wie von östlicher Philosophie schuf er mittels Malerei und aufwendiger Stempelverfahren eine Reihe abstrakter Filme von eindrucksvoller Komplexität, deren rhythmisch pulsierende Formen und Farben sinnenübergreifende, proto-psychedelische Bildwelten erzeugen.

Brakhages subjektive Meditation

Auch der amerikanische Filmemacher Stan Brakhage – zweifellos eine der zentralen Figuren des experimentellen Films überhaupt – hat sich in unterschiedlichen Phasen seines rund 50 Jahre umspannenden Schaffens immer wieder mit Verfahren des kameralosen Films beschäftigt. Bereits der 1963 entstandene Film „Mothlight“, eine radikal subjektive Meditation über Leben und Tod, bezieht seine Wirkungsmacht aus dem direkten, kameralosen Bildverfahren.

Die tanzend-flackernde Komposition aus Mottenflügeln, Gräsern, Blüten und Blättern gilt heute als einer der wenigen Klassiker des Experimentalfilms und ist als ein Schlüsselwerk in der Geschichte des „direct film“ anzusehen. Hier werden erstmals materielle Objekte selbst zur visuellen Substanz des Filmbildes.

Im Sinne einer künstlerischen Collage ordnete Brakhage die lichtdurchlässigen Insektenflügel, musikalischen Grundregeln folgend, auf transparenten Filmstreifen an und erzeugte auf diese Weise filmische Bilder – Strukturen, Formen und Farben von fragiler Schönheit –, die sich mit einer Kamera so kaum einfangen ließen.

Film zur Ausstellung „Zelluloid“

Zahlreiche Künstler und Avantgardefilmer haben seit den 1960er-Jahren mit dem Prinzip des „direct-on-film“ experimentiert. Das Spektrum reicht dabei von den vibrierenden und sich permanent transformierenden, aus Tausenden von minutiös durchgezeichneten Einzelbildern geschaffenen Farbkosmen des baskischen Malers José Antonio Sistiaga bis zu den in Schwarzfilm gekratzten Buchstabenfolgen von Dieter Roth. Vielfach greifen die Filmemacher auch auf „found footage“, also aufgefundenes bereits belichtetes Filmmaterial, zurück und eignen sich dieses – durch Übermalen, Zerkratzen, Beschriften oder andere physische und chemische Verfremdungsprozesse – an.

Found Footage

So sind die abstrakt wirkenden Arbeiten des deutschen Künstlerkollektivs „Schmelzdahin“ häufig durch die Verwandlung fremden Materials mittels chemischer, bakteriologischer oder thermischer Eingriffe in die Filmemulsion entstanden. Der französische Film „Ville en flamme“, materielle Grundlage für die Arbeit „Stadt in Flammen“ von „Schmelzdahin“, war beispielsweise einen Sommer lang in der Erde vergraben und dort einem natürlichen Zerfallsprozess ausgesetzt. Anschließend wurde das fragile beschädigte Material mit einer Nähmaschine bearbeitet, in einem Kopiervorgang Bild für Bild vervierfacht und mit einer Tonspur versehen.

Nach einer auffälligen Konjunktur des „direct film“ in der Experimentalfilmproduktion der 1980er-Jahre scheint die kameralose Praxis heute im Kontext der zeitgenössischen Kunst auf einer neuen Ebene eine Renaissance zu erfahren. In einer von immateriellen digitalen Medien durchdrungenen Welt entdecken vor allem jüngere Künstler die Materialästhetik des Zelluloids, dessen sinnliche, insbesondere haptische Qualitäten sich mit elektronischen Bildern kaum hervorbringen ließen. Der 1971 geborene Künstler Luis Recoder etwa hat für seine Serie von kameralosen Studien mit dem Titel „Available Light“ die noch lichtdicht verpackten Filmrollen einem präzise kontrollierten Lichteinfall ausgesetzt. Die so entstandenen filmischen Tableaus aus Licht und intensiven, pulsierenden Farbverläufen erinnern an Arbeiten von Künstlern wie James Turrell oder Robert Irwin.

Die in Kalifornien lebende Künstlerin Jennifer West hat seit 2004 ein Konvolut von über 50 direkt bearbeiteten Filmen geschaffen. Sie unterwirft das Filmmaterial aufwendigen Eingriffen und Prozeduren, die sie als gleichsam performativen Akt inszeniert.

Wests psychedelische Filmräume

Filmische Formate bis hin zum 70-mm-Großbild werden dabei mit allen erdenklichen alltäglichen Materialien, von Lebensmitteln über Lippenstift bis zu Motorradreifen, behandelt oder in mehr oder weniger wirkungsvolle Substanzen getaucht, wobei sich das jeweilige Konzept allein über den Titel erschließt, wie etwa bei ihrem „Film Wearing Thick Heavy Black Liquid Eyeliner That Gets Smeary (70 MM film leader lined with liquid black eyeliner, doused with Jello Vodka shots and rubbed with body glitter)“.

Wests immersive psychedelische Filmräume, die häufig bereits im Titel an den Geschmacks-, Geruchs- oder Gehörsinn appellieren, rufen dabei mit besonderer Eindringlichkeit die Vision des Films als einer synästhetischen Kunst in Erinnerung, welche die Geschichte des „direct film“ von Len Lye über Harry Smith bis Stan Brakhage durchdringt.
ES/DA

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