Der Künstler und Prophet Gusto Gräser wurde von seinen Zeitgenossen belächelt, aber auch für seine Entschlossenheit bewundert. Er gründete eine der ersten Kommunen, lebte in einer Grotte und inspirierte Hermann Hesse.

Schon als Schüler tut sich der 1879 in Kronstadt im damaligen Königreich Österreich-Ungarn geborene Gräser schwer mit gesellschaftlichen Konventionen, gerät mit seinen Lehrern aneinander, wird schließlich vorzeitig des Gymnasiums verwiesen. Seine Zeit verbringt er fortan mit ausgedehnten Streifzügen durch die Natur und ersten Versuchen als Maler und Bildhauer. Früh zeigt sich sein überdurchschnittliches künstlerisches Talent und es verwundert nicht, dass Gräser zunächst eine klassische, durchaus erfolgversprechende Künstlerkarriere einschlägt. 1896 gewinnt er mit einer Skulptur den ersten Preis der Budapester Weltausstellung und geht, ermutigt durch diesen Erfolg, im Alter von 18 Jahren nach Wien, um an der dortigen Kunstgewerbeschule zu studieren. Dort kommt es zur ersten entscheidenden Begegnung im Leben des jungen Gräser: Er lernt den knapp 30 Jahre älteren Karl Wilhelm Diefenbach kennen, der sich zu diesem Zeitpunkt als Vorkämpfer der Lebensreform und erster Künstlerprophet Deutschlands bereits einen Namen gemacht hat.

Fasziniert von dessen kompromissloser ökologischer Lebensweise sowie seinen radikalen, die Gesellschaft und ihre Konventionen ablehnenden Ansichten, erkennt Gräser in Diefenbach seinen Meister und schließt sich der von ihm gegründeten Landkommune "Himmelhof" bei Wien an. Doch ist sein Aufenthalt in der Kommune nur von kurzer Dauer. Enttäuscht von Diefenbachs autoritärem Führungsstil, der seinen Anhängern unbedingten Gehorsam abverlangt, verlässt Gräser die Lebensgemeinschaft und kehrt in seine Heimat Siebenbürgen zurück, wo er sich weiter dem Malen widmet.

Hier ereignet sich, was Hermann Müller, Weggefährte und Biograf Gräsers, als "visionäres Initiationserlebnis" seines Freundes beschreibt: Dem jungen Künstler erscheint, einer göttlichen Eingebung gleich, ein Engel, der ihn mit dem Schwert hinausweist in die Welt. Dieser Vision folgend, vernichtet Gräser fast all seine Bilder; erhalten geblieben ist lediglich das monumentale Gemälde "Der Liebe Macht" (1898/99), in dem Gräsers Zivilisationskritik auf geradezu exemplarische Weise zum Ausdruck kommt: Es zeigt eine Landschaft, deren rechte Hälfte in ein höllenartiges Licht getaucht ist und von rauchenden Fabrikschloten und sich bekriegenden Menschen dominiert wird; linkerhand ist unberührte Natur zu sehen, Mensch und Tier sind in friedlichem Einklang dargestellt.

Nachdem er sich des Ballasts seines bisherigen Schaffens entledigt hat, beginnt Gräser seine erste große Wanderung gen Süden. Sein Weg führt ihn ins schweizerische Tessin, wo er westlich von Ascona den Hügel Monescia entdeckt, dessen Anblick ihn sofort verzaubert. Hier möchte er seine Utopie eines naturnahen Lebens in hierarchieloser Gemeinschaft verwirklichen und gründet im Herbst des Jahres 1900 zusammen mit Gleichgesinnten die Kommune Monte Verità (dt. Wahrheitsberg). Jedoch endet das Experiment bereits wenige Monate später, da Gräser am ursprünglichen Konzept einer Liebeskommune festhält, während der Fabrikantensohn und Hauptgeldgeber des Projekts, Henri Oedenkoven, ein kommerzielles Sanatorium für eine internationale Kundschaft anstrebt. Oedenkoven und seine Anhänger setzen sich schließlich durch, es kommt zum Bruch mit Gräser, der sich von nun an in unregelmäßigen Abständen zwar weiterhin auf dem Monte Verità aufhält, von der übrigen Gemeinschaft allerdings weitgehend isoliert lebt. Zeitweilig haust er als halbnackter Eremit und buchstäblicher Naturmensch in einer Felshöhle unweit von Ascona, ernährt sich von Wurzeln und Waldfrüchten. Gräser verweilt nie lange an einem Ort. Immer wieder begibt er sich auf Wanderung, verteilt dabei eigenhändig hergestellte Blätter mit Aphorismen: "Ich kam, ein Feuer zu zünden in diesem Erdenland. Was wollt' ich mehr, es stünden die Herzen schon in Brand. Was ich bin -- das weiß ich nicht, sicherlich kein Wichtigwicht! Was ich bin, frag nur nit' lang. Eins bin ich wohl: Bin in Gang", so Gräser in einem seiner Sinnsprüche.

Auf seinen Wanderungen erregt Gräser mit Bart, Stirnband, wallenden Haaren und Kutte Aufsehen. Rasch erlangt er Bekanntheit, besonders Intellektuelle und Künstler fühlen sich von ihm angezogen, unter ihnen auch der junge Schriftsteller Hermann Hesse. Dieser hält sich 1906 und 1907 auf dem Monte Verità auf, besucht Gräser in seiner Grotte und führt ausgiebige Gespräche mit ihm. Hesse sieht in Gräser die Verkörperung von Nietzsches Zarathustra und nimmt ihn zum Vorbild für die Figuren des Demian, Protagonist seines gleichnamigen Romans, sowie des Dieners Leo in der mystischen Erzählung "Die Morgenlandfahrt". Letztere schildert die Geschichte eines geheimnisvollen Bundes, dessen Mitglieder sich gemeinsam auf eine geistige Reise begeben und, "indem sie auf alle die banalen Hilfsmittel moderner Dutzendreisen, auf Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraph, Auto, Flugzeug und so weiter verzichteten, wirklich ins Heroische und Magische durchgestoßen sind" (Hesse in der "Morgenlandfahrt"). Diese Erzählung inspirierte Mitte der 1960er-Jahre unter anderem die Hippie-Gruppe "The Merry Pranksters", deren Initiator, der Schriftsteller Ken Kesey ("Einer flog über das Kuckucksnest") das kleine Bändchen stets mit sich führte. Überhaupt gilt Gräser, der Vegetarier und Kriegsgegner, Vordenker einer neuen Menschheit ohne Herrn und Knecht und Zerstörung der Natur, heute als Prototyp der künftigen Hippies.

Nachdem Gräser ab 1910 einige Jahre mit seiner Frau Elisabeth Dörr und den sechs Kindern in einem selbstgebauten Wohnwagen durch Deutschland und die Schweiz zog, wird er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Militär einberufen. Als Naturmensch und bekennender Pazifist verweigert er den Dienst, wird daraufhin von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Nach drei Tagen in der Todeszelle wird er als mit "entarteten Ideen behaftetes Individuum" entlassen. In den folgenden Jahren setzt Gräser sein unstetes Wanderleben fort, verbringt zwischendurch einige Jahre im Kreise seiner Familie in Ascona. Nach der Trennung von seiner Frau wird es still um Gräser. Infolge mehrerer Verhaftungen und eines Schreibverbots durch die Nationalsozialisten zieht er sich nach München zurück. Dort lebt er bis zuletzt vereinsamt und vergessen in einer Dachkammer. Eine der wenigen Fotografien aus dieser Zeit zeigt ihn 1945, hoch betagt vor den Ruinen des Münchner Marienhofs.

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