Volker Reiche lebt und arbeitet, nein, nicht in Frankfurt, sondern in Königstein-Schneidhain im Taunus. Aber weil Reiche erstens eine lange Frankfurter Geschichte hat und zweitens ausgesprochen großartige Comics zeichnet, gehört er trotzdem in diese Porträtserie über Frankfurter Künstler.

Volker Reiche hat zwei Räume für seine Kunst, im Untergeschoss eines typischen Neubausiedlungshauses, der Wald direkt um die Ecke. In dem einen Raum zeichnet er, in dem zweiten entstehen seine Malereien. Seine Sammlung an Stiften, Tuschefedern, Bleistiften, Farbtuben und Pinseln ist mehr als beachtlich. In Töpfen, Tassen und alten Gurkengläsern bewahrt Reiche sein Werkzeug auf. An den Wänden hängen seine Werke. Comicstrips, Plakate, Skizzen. Eine zeigt Mäntel, auf der linken Blattseite die für die Herren, rechts die für die Damen. So steht es auf dem Papier.

Ein anderes Blatt zeigt den im Sessel versunkenen, Zeitung lesenden Strizz. Der beharrlich philosophierende, immer etwas faule Buchhalter ist die wohl bekannteste Figur von Volker Reiche. Über acht Jahre lang hat Reiche seine Strizz-Reihe für die FAZ gezeichnet, abgedruckt wurden seine Geschichten im Feuilleton der Zeitung. Mit der Serie war Reiche damals der aktuellste deutsche Comiczeichner. Was das Land bewegte, was in der Politik passierte: In die Geschichten von Strizz, seiner Frau Irmi, seinem Chef Leo, dem neunmalklugen Neffen Rafael, dem Haiku dichtenden Hofhund Tassilo, dem Kater Herr Paul und vielen anderen sympathisch-schrägen Figuren fand all das Einlass.

Reiche aber zeigt mir erstmal keine Comics, sondern zieht mich vor seinen Bildschirm. Er startet "Far Cry 3", ein Ego-Shooter-Spiel. Mit martialischen Waffen ausgestattet lässt er eine Figur durch die Urwaldlandschaft laufen. Immer am Ufer entlang, bis auf der anderen Seite des Wassers eine von Bösewichten bewachte Bretterbude auftaucht. „Das hat jahrelang gedauert, dass es in Computerspielen eine dermaßen glaubwürdige Wasserfläche zu sehen gab", erklärt er. Und er schwärmt von den Fertigkeiten der Spieledesigner und Programmierer, die diese „unfassbar großen Räume, über viele Quadratkilometer" haben entstehen lassen, diese Parallelwelt auf dem Desktop.

Seit die ersten Computerspiele auf den Markt kamen, am Ende der 1970er-Jahre, ist Volker Reiche von dem Medium fasziniert -- andererseits aber auch verstört von der unkritischen Darstellung von Gewalt. Was macht Gewalt so spannend für uns, warum ist der Mord Teil unserer Kultur? Was gefällt uns an "Pulp Fiction" oder dem "Tatort" am Sonntagabend? Oder an Captain Sharky? Den niedlichen Piraten findet man heute in beinahe jedem Kinderzimmer. „Piraten waren bestialisch. Kinder wachsen heute unter der Fahne dieser Mordbrut auf, das ist eigentlich irre", sagt Reiche. Und er fragt sich: „Wenn einer sagt, Krieg ist böse, warum empfinden wir das heute als lächerlich?"

Krieg spielen, Aufwachsen mit Gewalt: Darum geht es auch in der autobiografischen Graphic Novel „Kiesgrubennacht", die der Zeichner im vergangenen Jahr im Suhrkamp Verlag veröffentlicht hat. Reiche, Jahrgang 1944, erzählt darin von seiner Jugend, vom Aufwachsen im Nachkriegsdeutschland. Und vom Vater, der seine Kinder schlägt. Vom Vater, der in der NS-Zeit als linientreuer Kriegsberichterstatter tätig war. Vom Vater, der Nazi-Gedichte verfasste. Und davon, wie er selbst darum kämpfte, gegenüber diesem Vater Position zu beziehen. „Was Gewalt wirklich bedeutet, das war uns als Kindern damals viel klarer", sagt Reiche.

Schon als Kind hat er viel gezeichnet, war früh begeistert von der Welt der bunten oder schwarzweißen Bildfolgen, aber auch von den Zeichnungen des Wilhelm Busch. Studiert hat er trotzdem erst einmal Jura. In Frankfurt kommt Reiche dann mit der Sponti- und Hippie-Bewegung in Kontakt. Er fühlt sich sofort angezogen von dieser freien Welt und „diesen Menschen, die keine weißen Hemden oder Schlips anhatten". Er entdeckt die anarchischen Comics der Amerikaner. Robert Crumb. Gilbert Shelton. „The Fabulous Furry Freak Brothers". Er engagiert sich im Häuserkampf, der im Frankfurter Westend tobt, zeichnet Plakate für linke Treffpunkte und Bars, und er bringt seinen ersten Comic im Eigenverlag heraus. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, was für eine Freiheit das damals bedeute: Jeans und Parka tragen, in einer WG leben."

Was dagegen nicht so leicht ist: mit Underground-Comics Geld verdienen. Deswegen versucht Reiche sein Glück und bewirbt sich als Zeichner für Donald-Duck-Geschichten. Für den niederländischen Oberon-Verlag übernimmt er schließlich sechs Stories. Etwas später wird er der Zeichner der „Mecki"-Reihe in der Fernsehzeitschrift „Hörzu". Auch dieser Job wird gut bezahlt, sichert Volker Reiche für viele Jahre ein Auskommen. Und er verschafft ihm Zeit, um sich der Malerei zu widmen. Dass er nicht unter dem Druck steht, mit seinen Bildern Geld zu verdienen, ist ihm wichtig. Einen Galeristen hat er sich trotzdem gesucht: Die Frankfurter Artvirus-Galerie kümmert sich um den Verkauf von Reiches expressiven Bilder, denen man immer ansieht, dass ihr Schöpfer aus der Comic-Welt stammt.

Wir kochen Espresso, blättern durch uralte amerikanische Comics, seine Frau schaut kurz herein. Reiches Studio kommt fast ohne Tageslicht aus, die Welt um einen herum und die Zeit kann man hier gut vergessen. Dass viele seine Strizz-Geschichten vermissen, sage ich. Und frage ihn, ob er selbst sich nicht auch wieder nach einem regelmäßigen Comicstrip sehnt. „Ja, da kommt etwas", bestätigt Reiche. „Aber keine Strizz-Fortsetzung, sondern eine neue Geschichte." Wenn alles gut geht, wird die neue Serie schon Ende Februar, wieder im Feuilleton der FAZ, starten. Der Titel: „Snirks Café".