Caillebottes kleinformatiges Gemälde „Trocknende Wäsche“ ist selbst für die innovative Gruppe der Impressionisten äußerst ungewöhnlich. Jahrzehnte später entdecken Fotokünstler das abstrakte Potential des Motivs.

Entlang einer unsichtbaren Leine flattert Wäsche, ein kräftiger Wind wirbelt sie auf. Die dramatische Bewegung der Stücke – es könnte sich um Betttücher handeln – ist in breiten, wilden Pinselstrichen aufgetragen. Mit dunklem Violett und dazu komplementären, rostbraunen Akzenten gemalte Schatten kontrastieren weiß leuchtende Stellen, auf die eine sommerliche Mittagssonne scheint. Unter dem dynamischen Flattern erstreckt sich ein Ruhe ausstrahlendes, in horizontalen Flächen gestaltetes Flussufer, im Hintergrund sind ein Haus und ein Wäldchen auszumachen. Caillebottes „Trocknende Wäsche“ ist ein Musterbeispiel des von den Impressionisten entwickelten Malstils. Doch das Motiv ist selbst für diese innovative Gruppe äußerst ungewöhnlich.

Szenen des modernen Paris mit seinen breiten Boulevards, eleganten Parks und neuen Orten des Vergnügens, in Morgen- oder Abendlicht getauchte Landschaftsansichten, Flüsse, Häfen, Flaneure und Tänzerinnen dominieren die Leinwände der Impressionisten – trocknende Wäsche passt nicht so recht ins Bild. Doch auch sie war ein nicht zu übersehender Bestandteil des Alltagslebens der Stadt und der umliegenden Dörfer. Am Ufer der Seine flatterten Betttücher, Hemden und Kleider, auch in dem kleinen nordwestlich von Paris gelegenen Ort Petit Gennevilliers, wo dieses außergewöhnliche Werk im Jahr 1888 entsteht.

Auch Renoir und Monet malen in Petit Gennevilliers

Schon 1881 hatte Caillebotte hier gemeinsam mit seinem Bruder ein Grundstück gekauft, gleich neben dem Gelände des Pariser Segelclubs. Im 19. Jahrhundert hat die Industrialisierung Petit Gennevilliers noch nicht erfasst. Goldene Weizenfelder, Wiesen und Wälder, heimelige Häuser und die Segelboote auf der Seine bestimmen die buchstäblich malerische Atmosphäre. Fernab vom Trubel der pulsierenden Metropole frönt Caillebotte seinen Hobbys, segelt, arbeitet im Garten, gibt sich den Impressionen der Natur hin und betreibt Pleinairmalerei, die Malerei unter freiem Himmel. Zu seinen Lieblingsmotiven gehören jetzt vor allem die Blumen seines Gartens: Gladiolen, Chrysanthemen und Sonnenblumen bevölkern seine Leinwände, Menschen hingegen kaum noch.

Der Ort begeistert nicht nur ihn, sondern auch seine Freunde aus dem Kreis der Pariser Impressionisten. 1883 verbringt etwa Renoir den Sommer hier mit den Brüdern Caillebotte und malt ein Porträt von Charlotte Berthier, der Lebensgefährtin von Gustave Caillebotte. 1887 kauft Gustave seinem Bruder Martial schließlich dessen Anteil an dem Grundstück ab und zieht im Jahr darauf ganz nach Petit Gennevilliers. Am Boulevard de Rochechouart im Pariser Künstlerviertel Montmartre behält er eine kleine Wohnung, doch die meiste Zeit verbringt er nun auf dem Land. Auch seine Kollegen lassen sich von der friedlichen Landschaft inspirieren: Unter anderem entstehen hier Werke von Claude Monet, Berthe Morisot und Alfred Sisley.

Man Ray greift das Motiv auf

Doch keine der Arbeiten ist so außergewöhnlich wie Caillebottes „Trocknende Wäsche“, die als Vorstudie für eine großformatige Variante entsteht und Teil einer Serie zu diesem ungewöhnlichen Sujet wird. Die eigenwillige Themenwahl ist im Grunde typisch für Caillebotte, mit Motiven wie den „Parkettschleifern“ (1875) sorgte er für Aufsehen und entpuppte sich als visionärer Geist. Mit dem kleinformatigen Gemälde „Trocknende Wäsche“ und dessen nahezu ungegenständlichen oberen zwei Dritteln – die Wäsche ist als solche nur durch den visuellen Kontext zu erkennen – antizipiert er die Abstraktion in der Malerei, die erst nach der Jahrhundertwende die Kunstgeschichte revolutionieren wird. Jahrzehnte später greifen Fotokünstler das Motiv wieder auf: Man Ray erkennt das Potenzial der flatternden Wäsche mitsamt des Schattenspiels für die Abstraktion und nennt seine Fotografie aus dem Jahr 1920 „Sich bewegende Skulptur oder Frankreich“, Herbert List inszeniert sie 1934 unter dem Titel „Wäsche im Wind“. Das nur wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 1894 entstandene Gemälde gehört nicht zu Caillebottes bekanntesten, aber sicher zu den zukunftsweisendsten Werken dieses Visionärs.