Ulay war Berater bei Polaroid und bekam dadurch unbegrenzten Zugang zu den kostbaren Filmen und Apparaten. Diese Konstellation war der Grundstein einer wegweisenden künstlerischen Auseinandersetzung.

Die Fotografie friert einen Teil der Performance ein, stellvertretend. Hebt ihn heraus. Einen Ausschnitt nur, doch dieser kurze Moment ist nun gebannt für die Ewigkeit – zahlreiche Künstler und Künstlerinnen entdeckten seit den siebziger Jahren die Vorzüge des Ineinandergreifens von Fotografie und Performance für sich. So wie ihre Identitäten wechselten sie ihre Medien, gingen über sie hinaus, erkundeten ihre Grenzen.

Ulay, geboren 1943 als Frank Uwe Laysiepen in Solingen, ist einer dieser Künstler: Auf seinen künstlerischen Solowegen begleitet ihn seit bald fünf Jahrzehnten die performative Fotografie. Wird Ulay heute häufig mit den 14 ikonischen Performances der „Relations Works“ assoziiert, die während der künstlerischen wie privaten Verbindung von Ulay  und Marina Abramović zwischen 1976 und 1988 entstanden, spannt sich um diese Phase die Fotografie wie eine Klammer. Insbesondere Ulays Arbeit mit und für Polaroid prägt nicht nur sein Gesamtwerk maßgeblich, sondern leistete ebenfalls einen bedeutenden Beitrag zur Einführung der Polaroid-Fotografie in den Kunstkontext. 

Wo passe ich rein? 

Die Arbeit von Ulay mit Polaroid, der bis dahin als Industrie- und Architekturfotograf tätig war, beginnt um 1970. Kontakte zu Polaroid machen ihn nicht nur schnell zum Consultant-Fotografen, sondern ermöglichen Ulay nahezu unlimitierten Zugang zu Filmen und Kameras, der dazu führt, dass auch seine freien Aufnahmen in den kommenden fünf Jahren ihren Ausdruck primär in Polaroids finden. Intim sind seine Aufnahmen der frühen siebziger Jahre – von Transvestiten, Transsexuellen, Obdachlosen und sich selbst. Vor allem letztere legen den Grundstein für Ulays lebenslanges Kunstverständnis: Das Selbstporträt – das „Auto-Portrait“ – ist Mittel zum Dialog, nicht aber mit anderen, sondern mit seinem eigenen Double. Meist in Serien angelegt, performt Ulay vor der Kamera, hält dies in seinen Fotografien fest und stellt sich dabei immer wieder die Fragen: „Was will ich? Wer bin ich? Wo passe ich rein, und was mache ich als nächstes?“

Davon zeugt etwa die Serie wie „Soliloquy“ (1972-1975): Sie zeigt das Gesicht in der Nahaufnahme, seinen Körper, seinen Trennungsschmerz, Selbstverstümmelungen. Ebenso schonungslos wie der Einblick in die Intimsphäre ist auch Ulays Umgang mit seinem eigenen Körper. Inszeniert und dennoch real, denn die Wunden, die er sich zufügt, sind echt. Parallel lotet Ulay in diesen Jahren Identitätskonstrukte in Hinsicht auf gängige Geschlechtervorstellungen aus. So etwa in den Auto-Portraits der „Renai sense“-Reihe. Äquivalent zu der Collagierung der Einzelbilder, die Ulay zudem mit auf Schreibmaschinen hinzugefügten Aphorismen versieht, dekonstruiert und montiert der Künstler hier auch visuell: Mann, Frau, nicht das eine oder andere, sondern alles zugleich ist Ulay in den Aufnahmen mit dem vielsagenden Titel „S’he“. 

Die Kamera gibt keine Antwort

Eine Antwort auf seine Fragen bleibt dennoch aus, denn: „Polaroid war eigentlich wie ein Spiegel. Der Spiegel gibt natürlich keine Antwort. Die Polaroid Kamera gibt auch keine Antwort auf die wesentliche Frage ‚Wer bin ich?’, weil eine Kamera darauf reduziert ist, nur das Äußerliche, die Oberfläche wahrzunehmen. Du kannst dich zwar verkleiden und damit identifizieren, aber das ist keine Antwort. Ich glaube, die Frage ‚Wer bin ich?’ ist die einfachste Frage überhaupt und am schwierigsten zu beantworten.“ Was Ulay in seinen Serien jedoch gelingt: Dinge zu erzählen, die Einzelbilder nie auszudrücken vermögen.

Produzierte Ulay in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zwar besonders aktiv, so geschah das nach eigener Aussage nicht für die Kunst. Mit dem Jahr 1975 und seiner ersten Ausstellung in der Galerie Seriaal/De Appel, die mit rund 220 Fotos von Transplantationen, Tattoos, Gender Crossing das damalige Kunstpublikum schockte, soll sich das ändern. Abgeschlossen ist die „Untersuchungsphase“ des „individuellen Mythologen“, wie sich Ulay mit Blick auf die Zeit von 1970 bis 1975 nennt, und so (zunächst) auch die fotografische Selbsterkundung. Stattdessen widmet sich Ulay von da an gänzlich der Performance vor Publikum. Mit diesem erkundet Ulay etwa den Negativraum der Fotografie: Für die Serie „Exchange of Identity“ bittet Ulay Menschen aus dem Publikum, Spuren ihrer Körper auf Leinwänden, die mit Fotoemulsion überzogen sind, zu hinterlassen. 

Die Neuerfindung der Fotografie 

Parallel dazu entstehen die ersten kollaborativen Kunstprojekte, unter anderem mit Jürgen Klauke. 1976 wird Ulay mit der Performance-Künstlerin Marina Abramović nicht nur privat, sondern auch künstlerisch ein Paar. Damit beginnt eine 12-jährige Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die sich der gemeinsamen Performance verschreibt. Erst als sich die beiden 1988 trennen, greift Ulay wieder zur Kamera – mit keinem geringeren Ziel als die analoge Fotografie neu zu erfinden.

Die Polaroidkamera ist mittlerweile so groß geworden, dass er sie physisch betreten kann. Was Ulay etwa in der Serie der Polagramme auch tut, die zwischen 1990 und 1993 in einem speziellen Polaroid-Studio in Boston entsteht. Teils überlebensgroß, zeigen die Polagramme nur noch die Spuren des Künstlers, der buchstäblich in die Kamera hineintritt (siehe „Self-Portrait“, 1990 mit 2,75 x 1,12 Metern). Indem er im Inneren der Kamera mit Licht performt, konservieren die „Polagrams“ die Bewegungen des Künstlers als weich gezeichnete, geisterhafte Spuren. Mehr noch als Polaroids heben diese „Polagrams“ die taktile Dimension der Fotografie hervor und setzen das Werden des Körpers mit dem des Bildes in Relation. Ist die Performance jedoch vergänglich, ebenso wie der Körper, bleibt das singuläre Ereignis als Stellvertreter der externen Realität auf dem Polagramm haften. Die Folge: Die Grenzen zwischen Präsenz und Absenz, Gegenständlichkeit und Abstraktion, Realität und Vorstellung verschwimmen. 

So sehr sich Ulays fotografischer Ausdruck seit den frühen siebziger Jahren verändert hat, so allzeit präsent bleibt die Frage nach Identität. Treu bleibt der Künstler bei all seinen Versuchen, Antworten darauf zu  finden, nicht nur dem Mittel der Grenzüberschreitung ­– der persönlichen, körperlichen, gesellschaftlichen wie auch technischen –, sondern auch dem Polaroid.