Sie wechselt scheinbar spielend zwischen Mutter- und Künstlerrolle und gilt als Wegbereiterin des schwedischen Expressionismus: Die STURM-Künstlerin Sigrid Hjertén.

Der Name lautet schlicht Ateljéinteriör, Atelier-Interieur also. Es gehört zu den bekanntesten Bildern von Sigrid Hjertén, und wer es einmal angeschaut hat, der wird kaum glauben können, dass dieses Motiv nahezu exakt 100 Jahre alt ist: Die schwedische Malerin porträtiert sich hier gleich doppelt, einmal mittendrin im Atelier und einmal mit Begleitung, wie Zuschauer am Rande eines schönen Spektakels. Pastellfarbenes Licht fällt durch die riesigen Fenster, überhaupt ist alles zart gefärbt, Türkis die Wände, auf dem Sofa davor sitzt eine Frau umringt von zwei Männern. Es ist die Malerin selbst, wie sich bei näherem Hinsehen herausstellt, einer der beiden ihr Ehemann Isaac Grünwald. An der Wand hängt ein Frauenporträt, auf der anderen Seite des Sofas steht eine Skulptur, vor dem Sofa ein Teeservice. 

Sigrid Hjertén, Ateljéinteriör, 1916 via Wikimedia Commons

So speziell die Farben und so modern die Art ihrer Inszenierung, das wirklich Radikale an Ateljéinteriör ist, wie Sigrid Hjertén ihre eigene Lebenssituation in Szene setzt – zwei Rollen, auf einem Bild vereint, aber eben doch in ihrem Widerspruch weiterhin sichtbar. Als Beobachterin des Geschehens strotzt die Malerin vor Selbstbewusstsein: Die Beine lässig übereinandergeschlagen, sitzt sie dort in ihrem todschicken schwarzen Kleid mit dem Federbesatz und den hohen Stiefeln und wirkt sichtlich amüsiert. Ihr Begleiter ist nicht ihr Ehemann, auch dies ein Tatbestand, den das Bild sehr deutlich herausstellt. Sie bildet, keine Frage, den eigentlichen Mittelpunkt des Geschehens, sie ist die Königin, die ihrem Sohn den Rücken zuwendet – der Junge tritt mit seinem blass türkisfarbenen Gesicht, derselben Farbe von Wand und Decke, auch farbsymbolisch in den Hintergrund.

Die Ambivalenz der eigenen Rolle

Nun war Sigrid Hjertén ganz gewiss keine Rabenmutter, was auch immer das im Einzelnen heißen mag. Die schwedische Malerin porträtierte Ivàn – genau wie ihren Mann, überhaupt ihr nahestehende Menschen - immer wieder, verbrachte viel Zeit mit ihm im Atelier. Beeindruckend und radikal modern ist gerade die Ambivalenz, die aus diesem Bild spricht: Nicht ohne Selbstironie definiert sich Hjertén in einem einzigen Bild zugleich als Malerin wie als Mutter, mit Ehemann und mit einem Begleiter, bei dem es sich Vermutungen zu Folge um den Malerkollegen Nils von Dardel handeln könnte. Ganz selbstverständlich nimmt sie diese Doppel-, man müsste eher sagen: Multi-Rolle für sich in Anspruch, was eben einschließt, dass eine Frau vielleicht nicht in allen Momenten primär Mutter oder auch Ehefrau sein muss und möchte.

Sigrid Hjertén, Kinder, Privatsammlung, 1914

Dass eine für den Beginn des 20. Jahrhunderts übliche Laufbahn nicht das richtige für sie wäre, musste Sigrid Hjertén früh klar gewesen sein. 1885 wird sie im schwedischen Sundvall geboren, ihre Eltern sind wohlhabende Kaufleute. Die Ausbildung zur Zeichenlehrerin genügt ihren eigenen Ambitionen nicht, sie entschließt sich zu einem Textilstudium in Großbritannien. Aus dem Plan wird nichts, aus der Künstlerkarriere schon: Mit Mitte 20 lernt Hjertén ihren späteren Mann Isaac Grünwald kennen, der sie von Anfang an in ihrem Vorhaben unterstützt und die junge Stockholmerin überredet, ihm nach Paris zu folgen. An der Académie Matisse wird sie vielbeachtete Schülerin des gleichnamigen Malers, der ihren Stil anfangs noch stark prägt.

Wegbereiterin der Moderne

Neben außerordentlichem Talent zeichnet sich Sigrid Hjerténs Werk durch ihre erstaunliche Produktivität aus – erstaunlich insbesondere, wenn man bedenkt, dass sie, wie in ihrem berühmten Bild angedeutet, zwischen verschiedenen Rollen und den damit verbundenen Ansprüchen jonglieren musste. Im Laufe ihrer insgesamt rund 30-jährigen Tätigkeit als Künstlerin hat sie so Hunderte von Bildern angefertigt und an über 100 Ausstellungen, darunter mehreren von DER STURM-Galerist Walden, teilgenommen. 

Sigrid Hjertén - Portrait of the Artist Isaac Grünewald, 1918 via Pinterest

Eine Monografie über Sigrid Hjertén ist „Wegbereiterin des Schwedischen Expressionismus“ betitelt. Tatsächlich kann der Einfluss von Hjertén auf die schwedische Moderne nicht genug betont werden, umgekehrt blieb auch sie offen für unterschiedlichste Strömungen und Anregungen von Malerkollegen erst in Paris und später in Stockholm, was sich in ihrem großen Stilspektrum widerspiegelt. Neben der mitunter auch durchaus selbstironischen Motivwahl und den ausdrucksstarken Figuren zeichnen sich ihre Bilder durch den oft extravaganten Einsatz von Farbe aus.

In Stockholm diagnostiziert man Schizophrenie

Wer Sigrid Hjerténs Werk chronologisch betrachtet, der bemerkt in ihren Bildern ab den späten 1920er-Jahren eine zunehmende Veränderung: Die Farben werden düsterer, die Motive einsamer, viele Bildern wirken regelrecht spannungsgeladen. In dieser Zeit beginnt Hjerténs psychische Erkrankung, die sich erst in kleineren psychosomatischen Leiden äußert und trotz zwischenzeitlicher Erholungen nie ganz kurieren lässt. Ob diese inneren Spannungen auch der Zerrissenheit zwischen äußerem Anspruch und eigenem Leben geschuldet ist, der vor knapp 100 Jahren für eine Frau nochmals deutlich zermürbender gewesen sein muss, bleibt zumindest eine mögliche Deutung.

Sigrid Hjertén, Frau mit Pelz, 1915

In jedem Fall klagt Sigrid Hjertén über zunehmende Einsamkeit: Isaac Grünwald, der während der Ehe verschiedene Geliebte hat, zieht nach Schweden zurück, sie bleibt zunächst in Paris. Später zieht sie ihm nach. In Stockholm diagnostiziert man Schizophrenie, nach einer Behandlung geht es der Künstlerin besser, und sie beginnt wieder zu malen. Ende der 30er-Jahre schließlich wird das Leiden übermächtig. Es folgen keine weiteren Bilder aus dem Atelier von Sigrid Hjertén. Zehn Jahre später stirbt die schwedische Malerin an den Folgen einer Lobotomie, die zur damaligen Zeit als Heilmittel gegen schwere psychische Erkrankungen galt.