Nicht nur Egon Schieles Blick auf die Welt und seine Modelle war ein sezierender, obsessiv erforschender. Er selbst war auch ein Suchender, ein Sehender.

Der Großteil des Werkes von Egon #Schiele widmet sich dem "wahren", bisweilen gemarterten Körper. Ihn galt es mit Stift und Blick zu sezieren. Schieles Blick auf den Körper, auf die Sexualität, auf die vibrierende Erregung war ein konzentrierter, ungeschönter und obsessiv ergründender. Im Gegensatz zu Gustav Klimt, seinem großen künstlerischen Vorbild, war dieser Blick frei von jeglicher Ästhetisierung. Oft stand auch Schieles eigener Körper im Brennpunkt seines schonungslos durchleuchtenden Blicks.

Schiele gelang die Aufnahme an der Akademie der bildenden Künste in sehr jungen Jahren. 1906 lernte der 16-jährige Schiele in der Malklasse von Professor Christian Griepenkerl und war anfänglich begeistert. Doch schnell wich die Begeisterung einer Abneigung gegenüber dem starren Akademiealltag und den antiquierten Lehrmethoden, so dass Schiele schon nach zwei Jahren die Akademie verließ und mit anderen Künstlerkollegen die Wiener #Neukunstgruppe gründete. Die Gruppe war recht lose organisiert und hatte keine stilistische Ausrichtung, präsentierte sich jedoch in gemeinsamen Ausstellungen. In diesem Kontext betonte Schiele seinen Anspruch, als Künstler nur sich selbst verpflichtet zu sein und hatte in der Gruppe die Möglichkeit, dieser Maxime gerecht zu werden. Im ihrem Manifest forderte er die unbedingte Authentizität des Künstlers. Er kehrte folgerichtig nicht wieder an die Akademie zurück, sondern stürzte sich in das freischaffende Künstlertum. Das hatte ein materiell entbehrungsreiches Leben zur Folge, erwies sich allerdings als künstlerisch sehr ergiebig. Schiele entwickelte eine völlig neue und eigenwillige Bildsprache.

Erste Erfolge stellten sich für ihn 1909 ein, als er im Rahmen der "Großen Internationalen Kunstschau" mit der Neukunstgruppe in Wien ausstellte. Zu diesem Ausstellungsdebüt hatte ihm kein anderer als Gustav Klimt verholfen, zu dem Schiele noch während seiner Zeit an der Akademie persönlichen Kontakt suchte. Während dieser Ausstellung konnte er sich bei dem Kunstkritiker Arthur Roessler einen Namen machen und legte damit die Weichen für eine für sein Leben zentrale Beziehung. Roessler verhalf Schiele nicht nur durch seine guten Kontakte zu finanziellem Fortkommen, er nährte auch Schieles Neugier nach okkulten Themen.

Arthur Roessler war als Jugendlicher, strebend nach spirituellem Wissen und innerer Erleuchtung, ein Jünger von Karl Wilhelm Diefenbachs gewesen und lebte für kurze Zeit in seiner Kommune. Der selbsternannte Prophet #Diefenbach, der auch Maler war, propagierte ein Leben in Einklang mit der Natur, praktizierte die Freikörperkultur sowie eine fleischlose Ernährung und lehnte jedwede Religion und Monogamie ab. Seine Anschauungen brachten ihm den Spitznamen "Kohlrabi-Apostel" ein. Als Roessler dann merkte, dass Diefenbach "Humbug" trieb und seine Bilder von anderen malen ließ, verließ er die Kommune und zog seine ganz persönliche Lehre aus diesem Kapitel. Als schließlich eine Freundschaft zwischen dem Kunstkritiker und Schiele entstand, öffnete sich Roessler und erzählte dem jüngeren Freund von seiner Überzeugung, dass die einzige spirituelle Erleuchtung nur aus einem Selbst heraus geschehen könne und die einzige Quelle dafür der Gott im Inneren sei.

Schiele griff Roesslers spirituelles Wissen begeistert auf und setzte es in seinen Bildern um. Ende 1910 malte er zwei Gemälde mit denen er direkt unter Beweis stellte, dass er die Lehren nicht nur verstanden, sondern gar verfeinert hatte. Im "Bildnis Arthur Roessler" ist ein zutiefst spiritueller Mensch zu sehen, der mit geschlossenen Augen und vom Betrachter abgewandten Kopf dargestellt ist. Roesslers Körper wirkt leicht, als würde er schweben, was auf eine Auseinandersetzung Schieles mit der spirituellen Levitation, dem freien Schweben eines Körpers, hindeuten könnte. Darüber hinaus ist eine Form zu sehen, ähnlich einer Blase, die den Kunstkritiker umgibt. Die Assoziation der Aura drängt sich dem Betrachter auf.

Schieles esoterisches Interesse nahm bald solche Ausmaße an, dass es selbst Roesslers spirituellen Horizont überstieg. Schiele setzte sich schließlich sogar mit der Lehre des Astralkörpers, der psychologischen Methode des automatischem Schreibens (Écriture automatique) und Doppelgängern auseinander. Sein Doppelselbstbildnis "Die Selbstseher II (Tod und Mann)" zeigt eine vertiefende Auseinandersetzung mit okkulten Themen. Man sieht Schiele in doppelter Ausführung, sich selbst von hinten umarmend. Doch sind die Augen beider geschlossen, der Blick nach Innen gerichtet, auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung. Die auffällig isolierte Hand im Vordergrund, die anatomisch nicht zuzuordnen ist, greift das Thema des automatischen Schreibens auf.

Nicht nur erschuf Schiele eine völlig neue und eigenwillige Bildsprache, er entwickelte auch eine eigene Ikonografie, die frei von mythischem oder historischem Code war. Gerade in einer Zeit, in der die Moralvorstellungen prüde und bigott waren, war Schieles bewusstes Brechen mit den Konventionen äußerst provokant. Nicht nur sein unkonventionelles Privatleben, auch seine intensive Ergründung der Sexualität und seine eindringliche Darstellungen von Akten brachten ihm viel Kritik und gesellschaftliche Restriktion ein. Sein Brechen mit jeglicher Konvention unterstreicht, wie sehr Schiele seinem selbst auferlegten Anspruch gerecht wurde, als Künstler nur sich selbst verpflichtet zu sein und auf keinerlei äußere Bestätigung angewiesen zu sein.