Die SCHIRN beleuchtet im Rahmen einer umfangreichen Ausstellung die radikale Auflösung der Privatsphäre und den Weg in die Post-Privacy.

Anhand zahlreicher zeitgenössischer Kunstwerke geht die SCHIRN vom 1. November 2012 bis 3. Februar 2013 dem Thema der schwindenden Privatsphäre und der Öffentlichkeit des Intimen nach. Privat – das ist heute fast schon ein Wort aus der Vergangenheit. Kaum noch zutreffend in Zeiten, da alles auf Facebook gepostet wird, vom Lieblingskochrezept bis zum aktuellen Beziehungsstatus. Exhibitionismus, Selbstenthüllung, Erzähllust, Zeigefreude und Voyeurismus sind soziale Strategien unserer Zeit, in der längst ein Strukturwandel der Öffentlichkeit stattgefunden hat. Die umfassende Gruppenausstellung „Privat“ unternimmt anhand von rund 30 künstlerischen Positionen eindrückliche Exkursionen an die fragilen Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem. Fotografien, Polaroids, Handyfotos, Objekte, Installationen und Filme spiegeln häusliche Szenen und persönliche Geheimnisse. Vertrautes und Intimes wird ins Bild gesetzt.

Stan Brakhage präsentiert seinem Publikum 1959 filmisch die Geburt seines ersten Kindes, Ryan McGinley fängt mit seinen fotografische Kompositionen von Freunden und Bekannten scheinbar authentische Augenblicke ein. Michael Wolf unterstreicht die digitale Verfügbarkeit von Bildern, indem er Google-Street-View-Ansichten abfotografiert, und Tracy Emin stellt ihr benutztes Bett mitten in den Ausstellungsraum. Weitere künstlerische Auseinandersetzungen mit der radikalen Auflösung der Privatsphäre und dem Weg in die Post-Privacy kommen von Ai Weiwei, Merry Alpern, Michel Auder, Mike Bouchet, Leo Gabin, Nan Goldin, Dash Snow, Mark Wallinger, Andy Warhol und vielen anderen zeitgenössischen Künstlern.

Die radikale Offenheit des Persönlichen

Privatheit ist heute mehr denn je durch mediale Aspekte bestimmt. Der Wunsch nach immer schnellerer Kommunikation ist von größter Bedeutung, und vor allem die Medien Fotografie und Film ermöglichen eine schrankenlose Ausdrucksoffenheit. Die öffentliche Inszenierung privater Ereignisse, Homestories, Talkshows, Reality-TV, Chatrooms, digitale Fotoalben im Internet sowie die Präsentation von Persönlichkeitsprofilen für eine weltweite virtuelle Gemeinde sind Hinweise auf neue Formen öffentlicher Darstellung von Privatheit. Die aktuelle Debatte um den jüngst generierten Begriff der „Post-Privacy“ – der radikalen Offenheit des Persönlichen – stellt das bislang gültige Konzept von Privatheit in seiner Gesamtheit in Frage.

Die Ausstellung „Privat“ sucht eine kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Bedeutungen von Privatheit sowie den Mechanismen dieser spezifischen Bildproduktion anhand von Kunstwerken der späten 1950er-Jahre bis heute. Die künstlerische Beschäftigung mit dem Thema bedient sich verschiedenster Aufzeichnungssysteme. Schon im 19. Jahrhundert hatte die Erfindung der Fotografie das Privatleben aufgewertet; es konnte dadurch auch von Amateuren festgehalten, reproduziert, vervielfältigt und verbreitet werden. Später kamen die leicht zu handhabenden tragbaren Film- und Videotechnologien hinzu. Heute kann durch die permanente Verfügbarkeit von Technik alles jederzeit zum Bild gemacht werden. Anschließend geht es mit wenigen Schritten vom Smartphone ins Netz und damit in die Welt. Aufgrund technischer Entwicklungen hat sich die Bildproduktion in den letzten Jahren auf ein neues mediales Gebiet verlagert: das Internet.

Eine Erweiterung ins Netz

Im Rahmen der Ausstellung präsentieren Leo Gabin und Edgar Leciejewski speziell für das Online-Magazin der Schirn konzipierte Kunstprojekte. Wöchentlich werden die drei Künstler des belgischen Kollektivs Leo Gabin auf dem Schirn-Mag Videoclips vorstellen, die das Ausgangsmaterial für eine neue Arbeit bilden. Vom YouTube-Ausschnitt bis zum fertigen Video kann die Öffentlichkeit auf diese Weise am Entstehungsprozess einer neuen Arbeit teilhaben. Edgar Leciejewski wird öffentlich Tagebuch führen, indem er den Lesern jeden Tag ein Foto aus seinem Alltag mit Orts- und Zeitangabe präsentiert. Damit erfährt „Privat“ über den klassischen Ausstellungsraum hinaus eine Erweiterung ins Netz.

KÜNSTLER: Ai Weiwei, Merry Alpern, Michel Auder, Evan Baden, Richard Billingham, Mike Bouchet, Stan Brakhage, Sophie Calle, Tracey Emin, Hans-Peter Feldmann, Leo Gabin, Nan Goldin, Christian Jankowski, Jenny Michel und Michael Höpfel, Birgit Jürgenssen, Edgar Leciejewski, Leigh Ledare, Christian Marclay, Ryan McGinley, Marilyn Minter, Gabriel de la Mora, Mark Morrisroe, Laurel Nakadate, Peter Piller, Jörg Sasse, Dash Snow, Fiona Tan, Mark Wallin-ger, Andy Warhol, Michael Wolf, Kōhei Yoshiyuki, Akram Zaatari