Pixações sind in brasilianischen Metropolen allgegenwärtig. Obwohl diese Graffitis in der Gesellschaft verpönt sind, nehmen sie doch eine wichtige Funktion im Stadtbild ein. Eine Einordnung des Phänomens von Kommunikationswissenschaftlerin Julie Marcelino.

Die Graffitis in Brasilien übernahmen im Lauf der letzten Jahrzehnte eine wichtige Rolle in der visuellen Kommunikation im städtischen Raum. Optische Veränderungen sind zu erkennen, die zu zahlreichen unterschiedlichen Formen von Graffiti führten. Eine dieser Formen, die Pixações, ist heute in den brasilianischen Megacities unübersehbar. Pixações – auch ‚Tags’ genannt – sind eine von vielen möglichen Graffitiformen; ihre Ausdrucksform verweist eigentlich auf ihr Wesen, die Signaturen. Obwohl Pixações ein Art von Graffiti sind, werden sie als solche von der brasilianischen Gesellschaft kaum anerkannt, wird mit ihnen eher das Wort Vandalismus in Verbindung gebracht.

Es ist schwer, die umfangreiche Zahl der Interventionen, die über die Stadt verstreut sind, zusammenzufassen. Fakt ist, dass es keinen Stadtteil ohne Pixações gibt. Die schwarzen Signaturen messen im Durchschnitt etwa 80 cm in der Höhe, die Breite kann mehrere Meter erreichen. In bestimmten Stadtteilen sind sie omnipräsent, dort finden sie sich auf fast allen Straßen bzw. Häuser. Im Zentrum – wo die Hochhäuser fast allgegenwärtig sind und die Überwachung größer ist – werden bevorzugt die oberen Stockwerke bearbeitet; oft bekommt jede Etage einen Buchstaben, so dass die Signatur in der Vertikale über die Fassade zu lesen ist.

Auf den 1.523 km2 São Paulos leben 10.886.518 Einwohner, wobei mit der geografischen Entfernung vom Zentrum die Armut der Einwohner zunimmt. Die physische Abgrenzung durch die Distanz zum Zentrum entspricht den sozialen Trennlinien, die wiederum die Kommunikationsbarriere zwischen den verschiedenen sozialen Schichten mit sich bringt. Die Interventionen der Pixadores, wie die Sprayer sich selbst nennen, die im Alltag die Aufmerksamkeit und die Missbilligung der Öffentlichkeit auf sich ziehen, erweisen sich auf den zweiten Blick als bedeutungsvoll.

Indem sie auf etablierte Gesellschaftskonzepte Brasiliens wie Bildung, Segregation, Jugendbewegungen, den Status von Kunst und Eigentum anspielen, spiegeln sie die alltäglichen sozialen Konflikte der Stadtbewohner wider. Pixações stellen verdeckt etablierte Strukturen in Frage. Die Signaturen verweisen per se nur auf sich selbst; sie transportieren keinen erkennbaren Protestslogan. Im Gegenteil: die Signaturen sind für Außenstehende unlesbar und deuten nur auf die unsichtbaren Autoren hin. Die Zeichen, die öffentliche Missbilligung, Verachtung und Wut erregen, verschaffen den Pixadores eine gesellschaftliche Sichtbarkeit.

Die Pixadores sind hauptsächlich im Alter von 14 bis 25 Jahren. Sie stammen größtenteils aus der Peripherie der Stadt und werden als „Jugendliche in Risikosituationen“ von städtischen Einrichtungen eingestuft. Diese Verallgemeinerung entspricht jedoch nicht unbedingt der Gesamtheit der Akteure. Das Phänomen hat Mitte der 1980er-Jahre angefangen und seinen Höhepunkt Mitte der 1990er-Jahre erreicht. Die Entstehungsbedingungen der Pixações sind von besonderer Bedeutung: Die Zahl der Sprayer, Ort, Schwierigkeitsgrad und Gefahr bei der Aktion werden in der Szene wahrgenommen und gewürdigt.

Die Schriftzüge übernehmen für die Pixadores zwei Rollen: Einerseits sind sie ein Kommunikationsmittel, andererseits ein Kunstelement. Die Typografie übernimmt dabei eine entscheidende Rolle, so ist etwa die Entwicklung eines eigenen Alphabets die Voraussetzung für die Gründung einer neuen Gruppe. Die Buchstaben und das Zeichen, das die Gruppe in Zukunft repräsentieren soll, werden gründlich bearbeitet und zu Ornamenten entwickelt. Einmal im öffentlichen Raum angebracht, interagieren die überdimensionalen Signaturen mit der Architektur, schaffen Sichtbarkeit und führen den Dialog mit der Stadt.

Im zweiten Halbjahr 2008, in dem eine Kunstgalerie, eine Fakultät für bildende Kunst und letztlich die 28. Biennale von São Paulo besprüht wurde, beanspruchte eine Gruppe von Pixadores Kunststatus für Pixações. 2010 wurden Pixadores zur 29. Biennale von São Paulo eingeladen, deren Thema Politik und Kunst war. Dokumentarfilme, Fotos und Alben wurden ausgestellt und Diskussionen geführt. Manche Pixadores nennen ihre Pixos konzeptuelle Kunst, andere Performance. Aber alle scheinen sich hinsichtlich einer Institutionalisierung einig zu sein: Pixações ist Transgression und Provokation, verliert seine Kraft durch die Arbeit auf Leinwand und würde dadurch zur Repräsentation seiner selbst. 

Die Stadt ist ihr Element. Ihre Kraft entsteht aus der massiven Aneignung von Raum, durch die Aktionen selbst und die chiffrierten Botschaften, die sie hinterlassen. Pixadores konfrontieren die Bürger mit gesellschaftlichen Problemen, ohne eine deutliche Aussage zu machen. Der Inhalt wird durch das Medium selbst und seine Schöpfer vermittelt. Pixadores brechen die Hegemonie des Diskurses auf, nehmen die Stadt wahr und damit auch ihr Recht auf sie. Politisch und ästhetisch betrachtet sind Pixações und Stadt eng miteinander verbunden. Die Stadt wird zum Träger, zur Leinwand, zur Bühne nächtlicher Performance aber auch zum kollektiven Kunstwerk.

Über die Autorin:

Die Kommunikationswissenschaftlerin Julie Marcelino erlebte während ihrer Studienzeit in São Paulo den Boom des Graffitis in den 1990er-Jahren. Sie schrieb ihre Abschlussarbeit über Graffiti und promoviert derzeit zu Pixações, der brasilianischen Form des Tagging.