Mit der Serie "Heads" hat Philip-Lorca diCorcia ein Porträt modernen Lebens geschaffen, das uns mit Anonymität und Intimität, Masse und Individuum, Realität und Fiktion gleichermaßen konfrontiert.

Hoch über dem New Yorker Times Square installierte er künstliche Lichtquellen, die er über Radiosignale steuern konnte und die auch aus einer Entfernung von über 7 Metern aufgenommen, gestochen scharfe Fotografien ermöglichten. Inmitten des geschäftigen Treibens der Großstadt isolierte diCorcia mittels eines Teleobjektivs einzelne anonyme Individuen aus der Menschenmenge. Da er bei gleißendem Tageslicht fotografierte, blieb auch das Blitzlicht unbemerkt.

Die extreme Ausleuchtung seiner Protagonisten vermittelt bei Heads den Eindruck, als stünde der Einzelne auf einer Bühne -- ohne es zu wissen. Das Blitzlicht entrückt die Köpfe gleichzeitig ihrer Umwelt, die im Dunkel nahezu verschwindet. Licht ist wichtiges Stilmittel in diCorcias Fotografie. Er fixiert damit seine Protagonisten, friert sie ein inmitten alltäglichen Straßenverkehrs, blendet alles und jeden um sie herum durch Unschärfe und Schatten aus. Wie ihrer Welt entrissen werden sie präsentiert. Es wird der Eindruck erweckt, etwas sehr Intimes zu bekommen -- Augenblicke des vermeintlichen Alleinseins. Und doch prallt der Betrachter an der Oberfläche ab, bekommt die Distanz zu spüren, die zwischen Fotograf und Fotografiertem liegt.

Der unbemerkte Voyeur

Weil die Personen sich unbeobachtet fühlen, ist ihr Repräsentationsbedürfnis auf äußerliche imagebildende Maßnahmen wie Kleidung reduziert. Es besteht kein Kontakt zwischen Fotograf und Fotografiertem und so ist das Wirkungsdreieck eines klassischen fotografischen Porträts zwischen Fotograf, Fotografiertem und Betrachter grundsätzlich gestört. Durch das ungleiche Verhältnis drängt sich beim Betrachter ein gewisses Unwohlsein auf. Er wird gewissermaßen in die Position des Voyeurs gedrängt, der unbemerkt betrachten kann.

Die Ausschnitte, die zur Betrachtung feilgeboten werden, hat diCorcia sorgfältig ausgewählt. Aus über 4000 entstandenen Aufnahmen blieben 17 für die Serie „Heads". Dabei scheinen vor allem formale Aspekte seine Wahl bedingt zu haben. Szenerie, Farben, Muster, Licht und Schatten ergeben stets ein Ganzes, ungewöhnliche Accessoires oder Aufschriften wie „Little Angel" verleihen eine Konnotation, die vermeintlich über den Bildrahmen hinausweist. Manchmal ist es vielleicht auch eine menschliche Regung, die den Fotografen fasziniert hat, ein Lächeln, das einem Fremden, in Gedanken versunken, über das Gesicht huscht. So ist „Heads" keineswegs eine Reihe von Dokumentarfotos, sondern über die technische Vorbereitung, die Auswahl und den jeweiligen Ausschnitt eine sorgsam konstruierte Serie städtischer Anonymität mit bühnenhaftem Charakter.

Das Alltägliche wird bedeutsam

Die Kombination künstlichen und natürlichen Lichtes schafft eine ungewöhnliche Atmosphäre. Das Unbedeutsame wird plötzlich bedeutsam. Das Alltägliche irgendwie besonders. Als würde die Zeit stehenbleiben wirkt es, wenn das Licht auf ein Individuum fällt. Der Großstadtlärm gedämpft, ganz nah an einer Welt, einer Wirklichkeit, die wir niemals durchdringen werden, die eines anderen, fremden Menschen. 

In der langen Tradition der amerikanischen Straßenfotografie erschafft diCorcia ein Bild unserer Gegenwart, das oszilliert zwischen Nähe und Distanz, Öffentlichkeit und Privatheit, Offensichtlichem und Geheimnis.