Autorin Elvia Wilk erlebt eine Kunstwelt voller wetteifernder Wahnsinniger. Doch das Projekt "Translantics" der Künstlerin Britta Thie beweist ihr, dass noch Hoffnung besteht.

Seit zehn Minuten läuft „Pores of Perception", die erste Folge von Britta Thies Webserie #Translantics . Die Hauptfiguren, Bb, Yuli und Annie stehen zusammen am Rand einer Gruppe in einer hell beleuchteten Kunstgalerie. Nahaufnahmen ihrer Gesichtsausdrücke zeigen eng zusammengezogene Münder, unruhige Blicke, leicht verschwollene, mit silbrigem Lidschatten verschmierte Augen. Sie sehen aus, als erstickten sie gleich. Um sie herum ein laut plappernder Pulk von Menschen.

Der Raum ist klein genug, dass jeder jeden in seinem peripheren Blickfeld sehen kann, gefiltert durch einen Dunstschleier von Eifersüchteleien, verkürzten Reizen und sichtbaren Neurosen.

Yuli hält sich an ihrem kleinen braunen Hund fest, dessen beruhigende Anwesenheit uns daran erinnert, dass jede Person in diesem Raum auch nur ein Säuger ist -- wenngleich die Leute in diesem Licht eher amphibisch erscheinen. Die Galeriebesucher umklammern halb-leere Plastikbecher und Smartphones im zwanghaften Wechselspiel zwischen Selfie-Modus und Welt-Modus um Schnappschüsse von sich selbst und der Kunst zu ergattern: Gesicht, Kunst; Gesicht, Kunst.

Die Kunst ist ein Haufen pastellfarbener an Wände und Boden montierter Badematten.

„Ist das die Frau, die ein Jahr lang nicht auf dein Portfolio reagiert hat?" fragt Yuli als sie die Galeristin erspäht. Bb nickt und blickt zu Boden. „Mhm. Peinlich."

Bb begeht den Fehler, dass sie sich in hörbarer Lautstärke abfällig über die ausgestellten Arbeiten äußert -- Geläster mag vielleicht hinnehmbar sein, allerdings nur hinter vorgehaltener Hand -- und flüstert „Die Kunst suckt" gerade laut genug, dass die Galeristin am anderen Ende des Raums aufhorcht.

Die Galeristin unterbricht das Gespräch in dem sie sich gerade befindet und kommt herübergeschlichen. „Ist das so?" fragt sie abschätzig grinsend. Nachdem sie Bb bis jetzt nicht geantwortet hat, hat sie nun einen Grund, deren Existenz endlich zur Kenntnis zu nehmen.

Nachdem ich „Pores of Perception" am Tag des Erscheinens gesehen hatte, nahm mich eine Freundin auf eine Party mit. Es handelte sich dabei um den Launch eines neuen Berliner Kunstmagazins. Anwesend waren vor allem deutschsprachige Leute aus der Kunstwelt; ich erwartete schon fast auch Britta dort anzutreffen.

Als wir die Eingangstreppe emporgingen - wo uns eine Schar von Frauen begrüßte, die sorgfältig überprüften, dass wir auch tatsächlich eingeladen waren - hielt ich mir die Hände vor das Gesicht und drehte mich zu meiner Freundin: „Erinnerst du dich an den Redakteur der mich nie zurückgerufen hat?"

„Oh Gott." Sie erinnerte sich. „Der Typ ist hier?"

Auf der Party benahm sich besagter Redakteur so, als würde er mich nicht kennen. Für mich war es schon fast ein Spiel auszutesten, wie auffällig ich mich verhalten könnte, ohne dass er mich „sehen" würde. Ich probierte zu lästern aber vermutlich war ich nicht laut genug.

Als meine Freundin und ich später am Abend beisammen saßen und die Eiswürfel in unseren halb leeren Absolut Irgendwas Cocktails klappern ließen, erzählte ich ihr, dass der Redakteur es tatsächlich geschafft hatte, mich während des kompletten Abends zu ignorieren. Ich sagte zu ihr, dass es sich angefühlt hätte, wie mit einem Ex in einem Raum gefangen zu sein.

„Nur in der Kunstwelt" entgegnete sie.

Im Laufe der nächsten Tage ging mir dieser Ausspruch immer wieder durch den Kopf.

Nur in der Kunstwelt.

Es ist nur passend, dass im Mittelpunkt der zweiten Folge von Brittas Serie, #AwkAwards [1], ein Wettbewerb steht, bei dem es um Sichtbarkeit geht. In dieser Folge tritt Brittas Figur Bb bei einem Kunstpreis gegen zwei weitere Künstler an: Nora (wetteifernd) und Bas Jan Van der Eyck (großherzig und schlussendlich der Gewinner). Während sie zusammen in das Museum gebracht werden, in dem die Preisverleihung abgehalten wird, weigert sich Nora Bb ins Gesicht zu sehen. Letztere stöhnt: „Ugh, sie schaut mich noch nicht mal an."

Bb und ihre Freunde kommen in dem Hotel an, wo sämtliche Wettbewerber einquartiert sind. Mit dabei ist der Sänger Dan (Bodan), der mit ihr bei der Veranstaltung auftreten wird. Während er sich im Hotelbett zurücklehnt, eingewickelt in einen weißen Frottee-Bademantel den er über seiner Kleidung trägt, fragt Dan alle die zuhören (sprich, niemanden): „Gibt es einen Backstagebereich? Weiß das jemand? Nein. Ich hoffe es gibt einen. Ich hasse Auftritte, bei denen es keinen Backstagebereich gibt."

Das Verlangen nach einem Backstagebereich, in dem man sich verstecken kann, könnte als Verlangen nach Überlegenheit gedeutet werden, nach dem Privileg des Auserlesen-Seins, des an der Schlange vorbeigehen Könnens -- aber gleichzeitig kann es auch als das einfache Bedürfnis nach Raum für das eigene Innenleben gesehen werden. Eine Blase der Dunkelheit weitab von der hell beleuchteten Kunstgalerie oder Bühne, wo das eigene Leben und die eigene Arbeit auf dem Präsentierteller ausgebreitet daliegen, damit alle anderen darauf herumkauen können.

Der Backstagebereich ist, wie eine Freundesclique die ausschließlich Blickkontakt miteinander hält, ein privater, zum Zweck der Isolation abgeriegelter Raum. Ein Backstagebereich wäre nicht notwendig, wenn es da draußen nicht so halsabschneiderisch zuginge.

Es würde allerdings auch nicht so halsabschneiderisch zugehen, wenn nicht alle versuchen würden in den Backstagebereich zu gelangen.

Translantics ist bildhaft und nicht dokumentarisch. Die Charaktere haben den Auftrag, bzw. wurden dazu ausgewählt, Facetten ihrer selbst zu karikieren oder damit zu spielen. Diese Karikaturen sind einem nicht unvertraut -- wir alle erkennen uns darin wieder. Es sind die Charaktere die wir spielen, wenn wir uns selbst bei Galerie-Vernissagen LARPen. [2]

Das Hauptziel dieses ganzen Live-Rollenspiels ist Sichtbarkeit -- dass das eigene Gesicht oder Portfolio richtig gesehen wird. Aus diesem Grund ist das Nicht-Sehen (vielleicht in Verbindung mit einem Nicht-Kuss) der ultimative power move.

Die soziale Gamifizierung, der eine gewisse Art des Wettbewerbs stets innewohnt, kann Spaß machen und gleichzeitig qualvoll sein. Zwar behaupten wir, das stumme Gekicher, die stolzen Blicke und hastigen Wangenküsse zu verachten -- Vögel, die einander die Gesichter zerpicken -- doch diese Behauptung als solche ist bereits integraler Bestandteil des Spiels.

Jede Branche hat ihre Preise und Hierarchien, jedoch würde ich vermuten, dass in manchen Kreisen, wie der Kunstwelt, Erfolg stärker mit sozialer Kompetenz einhergeht. Und mit Kompetenz meine ich Gerissenheit. Und mit Gerissenheit meine ich elitäres Denken und Dreistigkeit.

Ich vermute beispielsweise, dass im Bereich der Teilchenphysik das Ursache-Wirkung-Verhältnis zwischen Leistung und Erfolg etwas eindeutiger ist. Aber wer weiß, vielleicht schlafen sich auch Naturwissenschaftler nach oben.

Der Kulturforscher Christopher Newfield sagte einmal, die Kunstwelt sei „voll von wetteifernden Wahnsinnigen." Aber sie ist auch kollaborativ ... Wenn Kreativität vom Wettbewerb abhängig ist, dann liegt das daran, dass der Wettbewerb zu einer bestimmten Kombination aus Aneignung und Austausch führt." [3]

Darin besteht sicherlich die Hoffnung. Zu einem gewissen Grad ist dies die Hoffnung, die in "Translantics" dargestellt wird. Das Projekt als solches ist bereits höchst kollaborativ und macht sich die Talente und Ideen von Leuten aus Brittas realem sozialen Umfeld zu nutzen. Es erlaubt ihnen das Wetteifern zu parodieren und sich dadurch möglicherweise von dessen Brandwunden zu erholen, indem man zusammen arbeitet -- indem man einander ansieht.

Die Hoffnung liegt darin, dass in den dunklen Inseln, die wir um uns herum errichten, irgendeine Form menschlicher Affinität gedeihen kann, ohne dass wir uns gänzlich hinter die Bühne zurückziehen. Die Inseln müssen tragbar sein. Porös. Vielleicht dürfen sie sogar kaum existieren.

Paradoxerweise erfordert einander sehen zu lernen, dass man zuerst versucht, nicht im direkten Sichtfeld gesehen zu werden, was viel schwieriger ist als es klingt.

Wenn das Gesellschaftsleben der Kunstwelt uns den Freiraum und die Kreativität gewährt, dass wir uns wie unberechenbare Monstren benehmen -- oder Karikaturen von Monstren, die aber noch immer eine gewisse Art von Monstren sind -- so eröffnet es uns zugleich eine weitere ungeheuerliche Möglichkeit: dass wir uns wie Menschen benehmen.

[1] Anm. d. Ü.: Wortspiel aus awkward -- unangenehm und art award -- Kunstpreis

[2] Anm. d. Ü.: LARP ist die Abkürzung für Live Action Role Playing, zu dt. etwa Live-Rollenspiel

[3] Isabelle Bruno and Christopher Newfield, "Can the Cognitariat Speak?" e-flux journal No. 14, 2010, www.e-flux.com/journal/can-the-cognitariat-speak/

Elvia Wilk ist Autorin und Redakteurin und lebt in Berlin. Sie ist freie Redakteurin für das Online-Magazin uncube sowie für Rhizome und verfasst regelmäßig Beiträge für Publikationen wie Frieze d/e, Art in America, Dazed und The Architectural Review. Darüber hinaus schreibt sie Poesie und Belletristik.