Als Pablo Picasso auf dem Montmartre lebte und arbeitete, gehörte er, der einer der Allergrößten wurde, noch zu den Kleinen. Doch es ist maßgeblich die Generation um Picasso, die den Ruf von Montmartre als Brutstätte der Avantgarde begründete.

Nach einigen Besuchen in Paris entschied Picasso 1904 in der Hauptstadt zu bleiben und mietete sich in einem heruntergekommenen Atelierhaus ein, das den Namen Bateau-Lavoir trug. Es müssen misslichste Bedingungen gewesen sein: heiß im Sommer und so kalt im Winter, dass es über Nacht in den Zimmern fror. Picasso solidarisierte sich bis zu einem gewissen Grad mit den ärmlichen und einfachen Verhältnissen seiner Umgebung, den Randgruppen und Schlechtergestellten. Besonders die Arbeiten aus den ersten Jahren in Paris wirken sehr emphatisch. Regelmäßig soll Picasso das Frauengefängnis Saint-Lazare besucht haben, wohin man reihenweise Frauen einlieferte, denen man illegale Prostitution vorwarf, sie entrechtete und als potentielle Seuchenmultiplikatoren aus dem Verkehr zog. Die Darstellungen dieser Frauen sind sensibel, zeigen in sich gekehrte, verletzte Seelen, die Opfer eines Systems waren, von dem andere profitierten.

Montmartre war ein Ort voller Paradoxe, hier prallten Welten schonungslos aufeinander. Montmartre war das Hinterzimmer der schillernden Oberflächen von Vergnügungsindustrie und Glamour. Der Alkoholkonsum der Arbeiterschichten zeichnete die Gesichter. Mit seinen engen Gassen war das Viertel Anfang des 20. Jahrhunderts ein Dorf, vor dem die großen Prunkstraßen halt machten. Der Untergrund war zu unberechenbar, größere Bauvorhaben deshalb nicht geplant. Die Gegend galt als so gefährlich, dass die Polizei die engen, unbeleuchteten Gassen nach Möglichkeit mied. Hier fand jeder Zuschlupf, der das Gesetz missachtete. Allerlei Abtrünnige siedelten sich an. Neben ihnen die Ärmsten der Armen. Arbeiterinnen, die ihren kargen Lohn durch Prostitution aufbesserten und diejenigen, die mit ihnen wiederrum ihr Geld verdienten. Hier konnte man den Puls der Metropole spüren, kam in Berührung mit den Menschen, die die Maschinerie des Glamours am Laufen hielten und gleichzeitig ihre größten Verlierer waren.

Der Bau von Sacre-Coeur schließlich stellte wohl den krassesten Kontrast und das stärkste Symbol der Wiedersprüche dar. Doch eben diese Kontraste lockten die Künstler. Dies war „the place to be“ für aufstrebende Talente. Dieser Ort war ihre Inspirationsquelle und Herausforderung zugleich. Im Bateau-Lavoir, dem Atelierhaus am Montmatre, sollen neben einer regen Künstlergemeinschaft auch Wäscherinnen, Schauspielerinnen und Marktfrauen gehaust haben. Hier vermischte sich das Leben im eigenen Haus und Picasso malte diese Kehrseite der Medaille ausgiebig, dieses Gegenteil der glitzernden Belle Epoque. Erschöpfte Wäscherinnen, Prostituierte aber auch der Zirkus wurden zu Hauptsujets dieser Jahre. Hier löste seine sogenannte Rosa Periode die Blaue Periode ab. Hier lebte er mit seiner langjährigen Freundin und Muse Fernande Olivier zusammen, schloss Freundschaft mit dem Dichter Guillaume Apollinaire, hier entstand sein Schlüsselwerk des Kubismus „Le Demoiselles d´Avignon“. Hier im Umfeld der Entbehrungen und des Elends entstanden aber auch private Zeichnungen, wie die für seine Freundin Fernande im Mutterglück, das ihr verwehrt blieb oder erotische Studien, die unverblümt zeigen, was er als junger Mann auf dem Montmatre gesehen haben muss.

Die Ausstellung versammelt Arbeiten all dieser künstlerischen Stationen Picassos während seiner Jahre auf dem Montmatre. Es ist förmlich spürbar, wie er alles, was er sah, erlebte oder erfuhr, in sich aufsaugte und verarbeitete. Es war wohl seine persönlich einschneidenste Zeit. Ein Experiment mit gutem Ausgang. Als er 1912 endgültig den Montmatre verließ, um sich in Montparnasse niederzulassen, war er bereits ein gefragter Maler, im Gepäck tiefgreifende Erfahrungen, von denen er künstlerisch zehren konnte. Er war Teil gewesen eines Ringens nach neuen Ausdrucksformen. Und er hatte mit dem Kubismus eine Antwort gefunden. Eine Antwort, die er zu personalisieren wusste und die ihn zu einem der wichtigsten und bekanntesten Künstler seines Jahrhunderts machte.