Mit seinem „Stillleben mit Kalbskopf und Ochsenzunge“ rückt Gustave Caillebotte die zeitgenössische Fleischbeschau ins Bild.

Ein blasser Kalbskopf baumelt an einem durch die Nasenlöcher gezogenen Fleischerhaken, daneben hängt eine schlaffe Ochsenzunge. Das banale Motiv ist nüchtern inszeniert: Was wir sehen, ist Ware. „Stillleben mit Kalbskopf und Ochsenzunge" von 1882 ist Teil einer Stillleben-Serie, in der sich Caillebotte mit dem Sujet Fleisch auseinandersetzt. Doch Fleisch ist hier nicht einfach nur Fleisch.

Caillebottes Arrangement ist eine Metapher für den rasch gedeihenden Wohlstand des 19. Jahrhunderts, in dem sich vor allem das betuchte Bürgertum regelmäßig üppige Fleischmahlzeiten leisten kann. Doch die breite Masse der Arbeiter, die in Scharen in die moderne Industriemetropole Paris strömt, kann vom duftenden Braten im Ofen nur träumen. Kalbskopf und Ochsenzunge sind mehr als eine Mahlzeit, sie sind Objekte der Begierde. Und der Betrachter des Bildes schlüpft in die Rolle des Begehrenden.

Eine Metapher für Prostitution

„Stillleben mit Kalbskopf und Ochsenzunge" ist reich an Anspielungen. Neben dem Verweis auf Wohlstand und Klassenunterschiede im neuen Paris versteckt sich hier auch eine Metapher für die in den Vergnügungsvierteln florierende Prostitution. Dort werden die Körper jugendlicher Prostituierter wie Fleischwaren inszeniert, das Kalbfleisch steht für ihr oft sehr junges Alter.

Das urbane Leben liefert den Impressionisten zahlreiche Motive. Sie machen die großen Boulevards, Straßenkreuzungen, Brücken und öffentlichen Plätze, die mit der Umgestaltung durch Baron Georges Haussmann entstanden sind, zu ihren Sujets, genauso aber auch Details wie Litfaßsäulen oder Schaufensterauslagen. Zeitgenössische Fotografen ziehen mit den neuen handlichen Kameras durch die Straßen, halten Szenen fest, die sich vor ihren Linsen abspielen, und machen Banales zum Motiv.

Eugène Atget etwa lichtet die Läden von Trödlern und Fleischereien ab, fotografiert herabhängende Ferkelleiber genauso wie Korsagen in Schaufenstern. Seine Aufnahme „Bordell, Petite Place" aus dem Jahr 1921 zeigt ein Mädchen, das vor einer Bordelltür auf der Straße steht. Sie präsentiert sich dem Fotografen bereitwillig, trägt ein kurzes Unterkleid, das ihre Knie freigibt -- eine Art der Fleischbeschau, an die auch Caillebotte gedacht haben dürfte, als er „Stillleben mit Kalbskopf und Ochsenzunge" malte.

Renaissance des Stilllebens

Schon unter den frühen fotografischen Werken finden sich zahlreiche Darstellungen von Essbarem. Henri Le Secqs „Stillleben mit zwei Fischen" vom 1855 etwa oder Captain N. Bailys um 1863 entstandenes „Jagdstillleben", wofür er Beutevögel und einen Hasen sorgfältig vor einer Holzwand drapierte. Bemerkenswert sind auch August Kotzschs „Kartoffeln" von 1870, eine Handvoll simple Knollen auf einem Teller.

In der Malerei erfährt das Stillleben zu dieser Zeit gerade eine Renaissance. Im 18. Jahrhundert war das Genre bedeutungslos geworden, galt lange als verpönt. Vor dem Hintergrund des Stadtlebens mit seinen üppigen Schaufensterauslagen gewinnen die Motive des Stilllebens allerdings eine neue Bedeutung und werden damit auch für die Impressionisten attraktiv. Sie sind Ausdruck eines neuen Konsumverhaltens und dokumentieren den Siegeszug moderner Warenkultur, die Kalbsköpfe genauso umfasst wie Prostitution.