Der Raum „Strahlungen“ in der Ausstellung „Edvard Munch. Der moderne Blick“ zeigt die Faszination, die die Strahlenforschung auf die künstlerische Arbeit des Malers ausübte.

Munch widmete sein künstlerisches Schaffen dem Rätsel des Sehens und der Erforschung des eigenen Blicks. Das wird auch an seiner Affinität zur Fotografie und zum Film deutlich. Mit der erstmaligen Projektion von Bewegtbildern im Jahr 1894 gelten die Brüder Lumière als Erfinder des Kinos. Ein Jahr später entdeckte Wilhelm Röntgen die Röntgenstrahlen. Diese Erfindungen nahmen erheblichen Einfluss auf das Werk Munchs.

Die Erkenntnis, dass Lichtwellen, die über die Helligkeit des Sonnenlichts hinausgehen, wie die unsichtbaren Röntgenstrahlen, Materie verschwinden lassen bzw. lichtdurchlässig erscheinen lassen können, inspirierte Munch zu zerfließenden Formen, Lichtüberlagerung und Lichtkörpern. Denn sie diente ihm als Beweis dafür, dass es mehr wahrzunehmen gibt, als das bloße Auge erkennen kann.

Augenlicht versus Sonnenlicht

Experimente mit der Netzhaut, sogenannte „after-images“, haben vor Munch auch schon andere Wissenschaftler und Künstler – unter anderem Goethe – durchgeführt. Bei diesen Blendungen mit Sonnenlicht, welche die Netzhaut an ihre Grenzen bringt, nahmen sie eine mögliche Erblindung in Kauf. Munch versuchte durch die Erforschung der Physiognomie des Auges mehr über das Licht und das Sehen zu erfahren.

Munchs Bilder „Die Sonne“ (1911) und „Sonne“ (1910-13) sind inspiriert von diesen „after-images“ und den physikalischen Erkenntnissen über das Licht. Die Sonnenstrahlen überlagern in Strahlenbündeln das gesamte Bild und stellen das Sonnenlicht farbig dar. Denn die Brechung des Lichts durch ein Prisma zeigt, dass im farblosen Licht das gesamte Farbspektrum enthalten ist.

Unsichtbares sichtbar machen

So wie Munch in seinen „Sonnenbildern“ Strahlung darstellt, die über die Wahrnehmung des Auges hinausgeht, fügt er mit dem Einsatz von Licht und Strahlung auch seinen Porträtgemälden weitere Dimensionen hinzu. Seinem Verständnis nach war der Menschen zweigeteilt in Körper und Geist, die er einerseits als physische Hülle und andererseits als unorganischen Körper auf seinen Bildern darstellte. Den Geist des Menschen malte Munch als eine den Körper umgebende Aura, wie in „Ingeborg mit den Händen hinter dem Rücken“ (1912/13).

Die Darstellung dieser für das menschliche Auge verborgenen Dinge war für Munch nur folgerichtig: So wie das menschliche Auge nicht des „Röntgenblicks“ fähig war, entgingen ihm auch andere Dimensionen, wie beispielsweise die Farbschwingungen des Lichts. Sein Bild „Neue Strahlen“ (1912/13) zeigt ein nacktes Paar inmitten von farbigen Kristallen. Der Kristall präsentiert hier das optische Prisma für die Zerlegung des Lichts in das Farbspektrum. Und er steht für die Unsterblichkeit der Seele, an die Munch glaubte.

Die Bedeutung des Lichts

Neben den physikalischen und biologischen Aspekten von Strahlung und Licht interessierte sich Munch auch für die psychischen Auswirkungen von Licht, wie beispielsweise die Lichttherapie, die noch wenig erforscht war, aber damals immer stärker in den Fokus der medizinischen Forschung rückte. Er selbst hielt sich gerne draußen auf und arbeitete bevorzugt unter freiem Himmel. Ein interessantes Detail, da in der norwegischen Heimat des Malers die Winter lange dauern und sehr dunkel sind. Der daraus resultierende Licht-Mangel wird als ein Grund für das vermehrte Auftreten von Winterdepressionen in den nordischen Ländern aufgeführt.

In Edvard Munchs Bildern jedoch symbolisiert Licht das Bewusstsein. Während die Röntgenstrahlen entmaterialisieren, sublimiert Munchs Blick das Sichtbare und bringt die Schwingungen des Lichts auf der Leinwand zum Vorschein.