Am 14. Juni 2012 kommt „Ai Weiwei: Never Sorry“ in die deutschen Kinos und gibt Einblicke in Leben und Werk des chinesischen Künstlers. Wir haben uns diesen und einen weiteren Dokumentarfilm über Performance-Koryphäe Marina Abramović schon bei der 62. Berlinale angesehen.

Einmal mehr bewies sich die Berlinale in diesem Jahr als Plattform des politisch engagierten Kinos. Revolutionen und Reflexionen rund um die persönliche Freiheit unter der Herrschaft totalitärer Regime zogen sich quer durch alle Festival-Sektionen. Zwei ganz unterschiedliche Dokumentarfilme porträtierten Marina Abramović und Ai Weiwei, zwei der wichtigsten Künstler der Gegenwart. 2009 war Ai Weiwei in der SCHIRN-Schau „The Making of Art“ vertreten, Marina Abramović schon 2001 in den Gruppenausstellungen „Das Gedächtnis der Kunst“ sowie „Blut: Kunst, Macht, Politik und Pathologie“. Ab November wird ein Werk Ai Weiweis im Rahmen der Ausstellung „Privat“ in der SCHRIN gastieren.

Jubelrufe und langes begeistertes Klatschen nach der Aufführung von „Ai Weiwei: Never Sorry“ im Haus der Berliner Festspiele galten dem abwesenden Künstler, Regisseurin Alison Klayman nahm es stellvertretend entgegen. Ai Weiwei darf bis zum 22. Juni weder aus China ausreisen, noch mit ausländischen Journalisten sprechen. Ihm ginge es aber gut, bestätigte Klayman, er würde auch wieder regelmäßig twittern, wenn auch vorsichtiger als vor seiner Verhaftung im April vergangenen Jahres. Über zwei Monate war er in einem chinesischen Gefängnis verschwunden, bevor er gegen Kaution freikam.

„Never Retreat. Retweet!“ 

Regelmäßig twittern heißt bei Ai Weiwei an manchen Tagen im Fünfminutentakt Kurzbotschaften hochladen, in denen er frei nach seinem Mantra „Never Retreat. Retweet!“ das chinesische Regime anprangert – laut, bestimmt und inspirierend mutig. Twitter sei eine fantastische Plattform für politischen Aktivismus, betont er vor Klaymans Kamera immer wieder. Die amerikanische Journalistin begleitete zwischen 2008 und 2011 einen vor Energie strotzenden Ai Weiwei, der nicht nur den ganzen Tag zitierfähige Kurzbotschaften textet, sondern auch noch Ausstellungen wie die Schau „So Sorry“ im Münchner Haus der Kunst vorbereitet und mit seinen Mitarbeitern im Studio in Peking an ambitionierten Projekten arbeitet. Nach dem verheerenden Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan, bei dem nachlässig gebaute Schulgebäude einstürzten, recherchierte der Künstler zum Beispiel über 5.000 Namen von in den Trümmern umgekommenen Kindern. Die Regierung hatte versucht, die Zahlen zu vertuschen. In München errichtete er den jungen Opfern ein Monument aus über 9.000 bunten Schulranzen.

Klaymans Film bietet keine cineastischen Höhenflüge. Der Inhalt aber bewegt, und so schleichen sich auch ohne großes Kino Gänsehautmomente ein, etwa wenn Ai Weiwei nach der Entlassung aus dem Gefängnis von Journalisten vor seinem Studio empfangen wird und ihren Fragen auf die Auflagen verweisend ausweicht. Er wirkt erschreckend gebrochen.

Abramović-Fans campten über Nacht vor dem MoMA

Großes Kino hingegen rührte das Publikum im International, einem DDR-Prachtbau aus den 1960er Jahren, bei der Premiere von „Marina Abramović. The Artist is Present“. Die Dokumentation trägt den Titel der großen Retrospektive, die das Museum of Modern Art in New York 2010 für sie ausrichtete.

Stundenlang standen die Besucher Schlange, einige Fans campten über Nacht vor dem MoMA, 750.000 schafften es schließlich rein und einige ergatterten mehr als nur einen Blick auf ihr Idol: Sie schauten ihr minutenlang direkt in die Augen. Abramović saß drei Monate lang an sechs Tagen die Woche auf einem Stuhl und lud Besucher ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Die Kamera war dabei. Aufgeregt und gerührt sitzen ihre Fans da wie Jünger vor einem spirituellen Führer, viele weinen. Von Abramovićs hellwachem Augenpaar geht ein Zauber aus, der auch das Berlinale-Publikum erfasste.

Standing Ovations im Kino International

Der Film schwenkt wie auch die MoMA-Retrospektive quer über Abramovićs einnehmendes Werk. In den 1970er-Jahren revolutionierte die im ehemaligen Jugoslawien als Tochter kommunistischer Partisanen geborene Künstlerin mit radikalen Performances die Gegenwartskunst. Ihr Medium war stets ihr eigener Körper, den sie meist nackt einsetzte und drangsalierte, etwa durch exzessives Fasten oder Selbstgeißelung.

Viele ihrer Arbeiten entstanden gemeinsam mit dem deutschen Performance-Künstler Ulay, die beiden waren zwölf Jahre lang ein Paar. Eine ihrer bekanntesten Performances ist „Imponderabilia“ aus dem Jahr 1977: Sie stehen sich in einem Türrahmen nackt gegenüber, das Publikum muss sich durch sie hindurchquetschen. Im MoMA übernahmen von Abramović geschulte Nachwuchs-Künstler die Rollen. Anlässlich der Retrospektive trafen sich Abramović und Ulay nach vielen Jahren wieder, die Kamera wird Zeuge einer ergreifenden Begegnung. Als sie nach dem Film im Kino International auf der Bühne standen, gab es Standing Ovations.

SCHIRN bereitet Yoko Ono Retrospektive vor

Beide Filme zeigen, wie Kunst ganz eigene Sprachen und politische Sprengkraft entwickelt. Gerade bereitet die SCHIRN die große Retrospektive zum Werk von Yoko Ono vor, Anlass ist der 80. Geburtstag der Künstlerin am 18. Februar 2013. Auch sie engagierte sich mit ihren Arbeiten für Frieden, Emanzipation und Menschenrechte. Bei ihrem erstmals im Jahr 1964 in Japan vorgestellten „Cut Piece“ saß sie alleine auf der Bühne und forderte das Publikum dazu auf, Teile ihrer Kleidung mit einer Schere abzuschneiden und mitzunehmen – eine eindringliche Performance. Yoko Ono dürfte zu den großen Vorbildern von Marina Abramović und Ai Weiwei zählen.