Lygia Clark erweiterte mit ihren interaktiven Installationen in den 1960er-Jahren die Grenzen der Kunst. In der Ausstellung „Brasiliana“ ist nun die Arbeit „A casa é o corpo“ der bedeutenden brasilianischen Künstlerin zu sehen.

Wer Lygia Clarks Arbeit „A casa é o corpo" (deutscher Titel: „Das Haus ist der Körper") erleben will, zieht die Schuhe aus. Durch einen Vorhang aus schwarzen, fest gespannten Gummibändern gelangt man in eine dunkle Kammer. Der Boden fühlt sich weich an. Man hat das Gefühl, dass er zu Wackeln beginnt. Durch einen zweiten Vorhang aus Gummibändern geht es weiter. Nun läuft man durch Luftballons. Danach ein Plastikzelt. Ein Gebläse geht an und nach einiger Zeit wieder aus. Sich duckend, kriechend führt der Weg in die nächste dunkle Kammer. Hier sind es kleine Plastikbälle, die auf dem Boden ausgebreitet sind. Durch einen letzten Vorhang, diesmal aus bunten Baumwollschnüren, tritt man hinaus -- und sieht sich selbst, in einem verzerrten Spiegel.

„A casa é o corpo" erzählt von Wachstum, Empfängnis und Geburt. Oder, besser gesagt, lässt den Besucher diese Phasen durchschreiten. 1968 hat Lygia Clark die Installation in Rio de Janeiro zum ersten Mal präsentiert. Schon wenig später konnte die Künstlerin ihr Werk gleich noch einmal zeigen, bei der Biennale in Venedig. In der SCHIRN steht die Arbeit nun am Anfang der Ausstellung „Brasiliana". Selbst heute, wo die Installationskunst uns schon lange nicht mehr als etwas Fremdes vorkommt, wirkt „A casa é o corpo" noch immer außergewöhnlich, hat das Werk von seinem avantgardistischen Geist nichts eingebüßt.

Den Menschen in das Werk einbeziehen, ihn Teil der künstlerischen Arbeit werden zu lassen: Dieser Gedanke war zum Ende der 1960er-Jahre revolutionär. Mit Installationen, die begehbar waren, die man ertasten konnte, die man fühlen konnte, widersetzen sich junge Künstler den klassischen Regeln der Kunstrezeption. In Brasilien waren es die Anhänger des „Neoconcretismo", die diesen neuen, experimentellen Weg gingen. Lygia Clark war eine der zentralen Figuren der Gruppe, Hélio Oiticica gehörte dazu. In der „Brasiliana"-Ausstellung ist der Künstler ebenfalls vertreten, mit der Installation „Cosmococa CC5--Hendrix War", die er 1973 gemeinsam mit dem Filmregisseur Neville D'Almeida realisierte. Clark und Oiticica haben ihre künstlerische Laufbahn beide im Feld der Malerei gestartet, sich dann aber bald mit Installationen, die den Betrachter mit in das Werk einbeziehen, beschäftigt.

„Ich gehöre einer Gruppe an, die versucht, die Partizipation des Publikums zu provozieren", beschrieb Lygia Clark ihren damaligen Ansatz einmal. „Diese Partizipation verwandelt die Bedeutung der Kunst, wie wir sie bis dato verstanden. Das kommt daher, dass wir den repräsentativen Raum und die passive Kontemplation des Werkes ablehnen; wir lehnen das Kunstwerk als Faktum ab und legen mehr Nachdruck auf den Akt der Verwirklichung des Angebots."

Mit ihren Installationen spricht Lygia Clark alle Sinne an. Damit stellt sie sich auch gegen die in der Kunst bis dahin vorherrschende Dominanz des Visuellen, der Farben, der Bilder. Lygia Clarks Kunst kann man immer auch fühlen, riechen, berühren und nicht einfach nur betrachten. Im Laufe ihrer künstlerischen Entwicklung nähert sie sich immer mehr Positionen der Performancekunst oder des Happenings an, auch wenn sie selbst diese Begriffe für ihre Werke nicht verwendet. Bei Arbeiten wie „Túnel" oder „Baba Antropofágica" (beide von 1973) steht die Aktion, das Performative im Mittelpunkt. Der ästhetische Charakter der Installation dagegen wird unwichtiger. Diese Entwicklung weg von der Produktion von sichtbaren Werken ging Lygia Clark immer weiter. Zuletzt beschäftigte sie sich dabei vor allem mit Formen der experimentellen Therapie, die sich auf die Psychoanalyse bezogen. Kunstwerke für Ausstellungen oder Performances erschuf sie schließlich gar keine mehr. „Ich glaube wirklich, dass ich auf die Welt gekommen bin, um zu helfen", begründete sie diesen Schritt.

Lygia Clark Art, künstlerisch zu arbeiten, war immer zutiefst demokratisch, war immer darum bemüht, die Rezipienten teilhaben zu lassen. In Brasilien hatte sie es damit nicht immer leicht. Während der Militärdiktatur verließ Clark, genauso wie viele ihrer Freunde und Kollegen, schließlich das Land. Sie ging nach Paris, unterrichtete an der renommierten Sorbonne. 1977 kehrte sie nach Rio de Janeiro zurück. Für jüngere Künstler wurde sie zu einer wichtigen Inspirationsquelle. Bis heute beziehen sich im Land viele auf das Werk von Lygia Clark, die 1988 im Alter von 67 Jahren starb. Auch international wurde sie wahrgenommen, wenn auch etwas zaghaft. Bei der „Documenta X" von 1997 etwa wurden einige ihrer Arbeiten präsentiert. Die ganz große Wiederentdeckung von Lygia Clarks Werk könnte sich nun aber im kommenden Jahr ereignen: Ab Mai 2014 wird das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) der brasilianischen Künstlerin eine große Retrospektive widmen.