Die SCHIRN präsentiert erstmals einen Überblick über den Wiener Farbholzschnitt zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Diese Ausstellung ist eine Premiere. Der Holzschnitt als eines der ältesten Druckverfahren der Menschheit erlebte mit Albrecht Dürer im Mittelalter seinen Höhepunkt, rückte als künstlerische Technik über die Jahrhunderte mehr und mehr in den Hintergrund und erfuhr plötzlich in ganz Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bahnbrechende Wiederentdeckung. So auch in Wien, wo zahlreiche Künstler und auffallend viele Künstlerinnen den Farbholzschnitt neu belebten. Die SCHIRN widmet diesem bislang kaum beachteten Phänomen vom 6. Juli bis 3. Oktober 2016 eine große, längst überfällige Ausstellung. Rund 240 Werke – auch aus verwandten Techniken wie Linolschnitt oder Schablonendruck – von über 40 Künstlerinnen und Künstlern geben einen beeindruckenden Überblick und lassen die ästhetischen und gesellschaftlichen Errungenschaften des Farbholzschnitts im Wien der Jahrhundertwende erstmals umfassend sichtbar werden.

Ludwig Heinrich Jungnickel, Smoking Cricket, 1910, Private collection, Germany

Die Präsentation geht der außerordentlichen Begeisterung nach, mit der sich während einer kurzen, dafür umso intensiveren Blütezeit zwischen 1900 und 1910 in Wien sowohl etablierte Maler als auch Newcomer mit dem Farbholzschnitt beschäftigten: darunter heute noch namhafte Mitglieder der Wiener Secession wie etwa Carl Moll und Emil Orlik, aber auch fast vergessene Künstlerinnen und Künstler wie Gustav Marisch, Jutta Sika, Viktor Schufinsky oder Marie Uchatius. Letztere waren allesamt Schülerinnen und Schüler der besonders bei jungen Talenten beliebten Wiener Kunstgewerbeschule und fasziniert von den technischen sowie formalen Möglichkeiten des traditionsreichen Druckverfahrens, das der künstlerischen Fantasie großen Freiraum bot und mit seinen charakteristischen Umrisszeichnungen sowie seiner flächig stilisierenden Darstellungsweise die Entwicklung der modernen Bildsprache des beginnenden 20. Jahrhunderts maßgeblich prägte.

Zudem öffnete der Farbholzschnitt mit erschwinglichen Preisen auch für Originaldrucke den vormals elitären Kunsthandel einem breiten Publikum. Er entfachte innerhalb der gesellschaftsreformerischen „Kunst-für-Alle“-Bewegung eine lebhafte Diskussion über Authentizität und Originalität einerseits sowie über ein Kunstschaffen jenseits des sogenannten „Elfenbeinturms“ andererseits – Themen, die an Relevanz bis heute kaum verloren haben. Wie stark der Farbholzschnitt zu einer Kunst beitrug, die alle Bereiche des Lebens erfassen wollte, zeigt die in Kooperation mit der Albertina in Wien entstandene Ausstellung anhand von zahlreichen Leihgaben aus Wiener Museen und Institutionen sowie aus Nachlässen und Privatsammlungen.

Hugo Henneberg, Night Scene – Blue Pond, c. 1904, Private collection (Courtesy Natter Fine Arts Wien)

Für die Blüte des Farbholzschnitts in Wien um 1900 spielten sowohl das kreative Milieu als auch gesamtgesellschaftliche Umwälzungen eine entscheidende Rolle. Diese historischen Rahmenbedingungen bilden den Ausgangspunkt der Ausstellung. Keimzelle des wiederentdeckten Farbholzschnitts war die 1897 von Gustav Klimt, Koloman Moser, Max Kurzweil und anderen gegründete Gruppe Wiener Secession. Sie entwickelte sich rasch zur einflussreichsten Vereinigung bildender Künstler in Wien und stand für einen neuen künstlerischen Zeitgeist, der mit dem rückwärtsgewandten Historismus der Wiener Ringstraßenära brach.

In ihrem berühmten Vereinslokal veranstalteten die Secessionisten vielbeachtete Ausstellungen, von denen insbesondere drei für den Wiener Farbholzschnitt von großer Bedeutung waren: die VI. Ausstellung (1900) als Zeugnis der für den Holzschnitt wichtigen Japonismus-Rezeption; die XIV. Ausstellung (1902) mit ihrem Katalog aus Originalgrafik – von Originalplatten gedruckte Holzschnitte – und die XX. Secessions-Ausstellung (1904), die erstmals dem zeitgenössischen Wiener Holzschnitt einen eigenen Raum widmete. Einen Höhepunkt des Wiener Ausstellungsgeschehens bildete die 1908 von Klimt und anderen Künstlern organisierte Kunstschau, in der fast die gesamte Wiener Farbholzschnittszene vertreten war. Viele der dort gezeigten Werke werden in der Schirn nun erstmals wieder gemeinsam präsentiert.

Broncia Koller-Pinell, Girl with Red Hair, c. 1905, Vienna, Universität für angewandte Kunst Wien

Für die Etablierung des Wiener Farbholzschnitts ebenso wichtig waren zwei Magazine: Die von der Secession herausgegebene Vereinszeitschrift mit dem programmatischen Titel Ver Sacrum (lateinisch für „Heiliger Frühling“) publizierte zwischen 1898 und 1903 in insgesamt sechs Jahrgängen 216 Farbholzschnitte. Und das Jugendstil-Magazin Die Fläche, das nur zwei Ausgaben umfasste, versammelte insbesondere in der zweiten Ausgabe zahlreiche Farbholzschnitte und Beispiele verwandter Techniken, etwa Linolschnitte und Schablonendrucke.

Eine große Reichweite erzielten die Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, der ein hoher Stellenwert im Rahmen der damals aufkommenden „Kunst-für-Alle“-Bewegung zukam: Kunst sollte zu einem auch abseits der Eliten verfügbaren Allgemeingut werden, die Unterscheidung zwischen hoher und sogenannter „Kleinkunst“ nicht länger gelten. Der Farbholzschnitt lieferte für viele Anhänger der populären Bewegung eine Antwort auf den Widerstreit zwischen moderner Kunst, gesellschaftlicher Legitimation und allgemeiner Zugänglichkeit. Die Gesellschaft gab für ihre Mitglieder jährlich Jahresmappen mit Originalgrafiken heraus.

Karl Anton Reichel, Study of a Female Nude, 1909, Vienna Albertina

Die darin enthaltenen Holzschnitte – von denen ein bedeutendes Exemplar Teil der SCHIRN-Ausstellung ist – stammten überwiegend von Künstlerinnen und Künstlern der Wiener Kunstgewerbeschule. Diese war Anfang des 20. Jahrhunderts neben der Secession das zweite Zentrum der Wiener Moderne und bei aufstrebenden Talenten wegen ihrer Pionierrolle in der Förderung eines reformierten Kunstgewerbes beliebt. Die Schule war vor allem für Frauen wichtig, da sie dort ohne Einschränkung zum Kunststudium zugelassen wurden; zu den Absolventinnen gehörten unter anderem Nora Exner, Nelly Marmorek, Jutta Sika und Marie Uchatius. Zentrales Anliegen der hier lehrenden Secessionisten, allen voran die Professoren Koloman Moser und Josef Hoffmann, war die umfassende Durchdringung des Alltags mit Kunst. Damit rückten sie in die Nähe der an Bedeutung zunehmenden „Kunst-für-Alle“-Bewegung.

Marie Uchatius, Panther – pattern for endpapers, c. 1905, Vienna, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst