Der Film "Scorpio Rising" des US-amerikanischen Künstlers Kenneth Anger förderte die albtraumhafte Seite des Amerikas der 1950er-Jahre zutage und legte das Fundament für eine Ästhetik, die heute allgegenwärtig scheint.

Als Kenneth Angers „Scorpio Rising" 1964 das erste Mal in Los Angeles gezeigt wurde, konfiszierte die Polizei das Filmmaterial auf Grund einer anonymen Anzeige und nahm den Kinomanager in Gewahrsam. Die Anzeige hatten, wie später bekannt werden sollte, Mitglieder der American Nazi Party erstattet, die ihre Flagge in „Scorpio Rising" beleidigt sahen. Der Manager kam auf Kaution frei und im darauf folgenden Prozess wurde Anger das Recht zugesprochen, seinen Film schließlich wieder zeigen zu dürfen. Er erkämpfte damit stellvertretend für viele weitere Filmemacher die Möglichkeit, sich auf den „sozialen Wert" ihres Werkes zu berufen und somit der Zensur zu entgehen.

Skandalträchtiger Gossip und Mythen des alten Hollywoods

Diese kleine Anekdote scheint schon beinahe typisch für den US-Amerikanischen Avantgarde-Filmemacher zu sein. Wagt man sich einen Schritt in das Universum des 1927 unter den Namen Kenneth Wilbur Anglemeyer geborenen Künstlers, so stößt man auf viele solcher denkwürdigen Episoden rund um dessen Leben. Angefangen mit der Behauptung Angers, 1935 als Mädchen verkleidet eine Rolle in Max Reinhardts und William Dieterles Film „Ein Sommernachtstraum" gespielt zu haben, über seine Verbindung zu dem Manson-Family Mitglied und verurteilten Mörder Bobby Beausoleil und seinen Umgang mit umstrittenen Figuren wie dem Church of Satan-Gründer Anton LaVey bis hin zur 1967 in der Village Voice erschienen eigenen Todesanzeige, welche natürlich von keinem anderen als Kenneth Anger selbst geschaltet wurde: Die Faszination für die sagenumwobene Glamourwelt der Stars und Sternchen einerseits, der unbedingte Wille, die Mythenbildung auch direkt auf das eigene Leben anzuwenden andererseits, machen es indes schwer, Fiktion und Realität in der Biografie des Filmemachers immer genau zu bestimmen.

Auszug aus "Scorpio Rising" (1963) von Kenneth Anger (Quelle: YouTube)

Anger drehte bereits als Zehnjähriger erste kleine Filme und erreichte schließlich 1948 mit dem ein Jahr zuvor gedrehten Werk „Fireworks" den Durchbruch in der amerikanischen Kunstszene. Um seinen Ruf als Enfant terrible zu festigen behauptete Anger seinerzeit, dass er den Film schon im Alter von 17 Jahren gedreht habe, wenngleich er beim Dreh tatsächlich schon 20 Jahre alt war. Nachdem der Filmemacher fast die kompletten 50er-Jahre in Europa verbracht hatte, kehrte er 1961 zurück nach Amerika. In Europa hatte Anger mehrere Filme gedreht und aus Geldnot das Buch „Hollywood Babylon" geschrieben, in dem er skandalträchtigen Gossip und Mythen des alten Hollywoods aufgreift und zum Teil weiterspinnt. Zurück in Amerika begann Anger mit der Arbeit an „Scorpio Rising", für die er den Ex-Marine und Motorrad-Enthusiasten Richard McAuley und dessen Freunde, die er zufällig in New York kennengelernt hatte, vor die Kamera brachte.

Das albtraumhafte Pendant zum 50er-Jahre Idyll

Der knapp 30-minütige Film „Scorpio Rising", 1963 in New York uraufgeführt, lässt sich dann auch am besten als eine Art filmische Collage beschreiben, durchgängig unterlegt mit Pop-Musik der 50er-Jahre. Der Anfang katapultiert den Zuschauer in einen düsteren, kellerähnlichen Raum. Man sieht einen jungen Mann an seinem Motorrad herumschrauben, dann Aufnahmen von weiteren Männern, die mit großer Präzision ihre Bikerkluft zusammenstellen, sich dabei immer wieder lasziv ihrer selbst vergewissern. Und schließlich erscheint Scorpio, in seinem Bett liegend, Comics lesend, die Wände voller James Dean-Poster, im Fernseher läuft „The Wild One" mit Marlon Brando. Die folgenden Szenen zeigen Scorpio erst beim Einkleiden, anschließend dann beim Schreiten auf düsteren Wegen und werden gegengeschnitten mit Sequenzen aus einem alten Bibel-Film: Jesus mit seinen Jüngern durch Gassen laufend, Wunder vollbringend. Diese Parallelität wird weiter gesponnen, Scorpio erreicht eine wilde Party, während Jesus mit seinen Jüngern in einem Keller sitzt. Später bricht Scorpio in eine Kirche ein und entweiht den sakralen Raum, stellt dort Totenkopf- und Hakenkreuzflaggen auf. In der finalen, fulminanten Montage werden schließlich Bilder von Adolf Hitler, von Wehrmachtssoldaten, der Schwarzen Messe in der Kirche und einem Motorradrennen ineinander verwoben, bis sich das Bild schließlich in ein rotes Leuchten auflöst.

„Scorpio Rising" beeinflusste nachhaltig eine Generation von Filmemachern, insbesondere hinsichtlich der Nutzung von Popmusik im Film. Bekannte Songs von Elvis Presley, Ray Charles, Bobby Vinton und den Crystals untermalen die homoerotischen, düsteren Bilder des Filmes und gewinnen dadurch eine morbide Qualität, die das albtraumhafte Pendant zum 50er-Jahre Idyll offenlegen und beispielsweise in David Lynchs Filmen immer wieder ähnlich eingesetzt wurden. In seinen Bildern legt Anger die ästhetische Anziehungskraft des Anzüglichen, Abstoßenden und Sadistischen frei, was mittlerweile in unzähligen Musik- und Werbevideos aufgegangen und gleichsam zum Bedeutungslosen verkommen ist. Und auch wenn „Scorpio Rising" heute sicher nicht mehr so zu schockieren und aufzuwühlen vermag wie zu der Zeit der Veröffentlichung, verweist der Film noch immer auf eine beängstigende und verstörende Ebene menschlicher Kultur. Diese Ebene beschreibt die vom Außenstehenden unverstandenen Rituale einer ihm fremden Gruppe, die für den unwissenden Betrachter höchst beunruhigend sein können. Kenneth Anger speichert dieses Gefühl in seinen Bildern und assoziiert es mit dem Vertrauten der Popmusik, welche fortan das Beängstigende in sich trägt. Und so beschrieb Kenneth Anger selbst auch einmal „Scorpio Rising" als „einen Todesspiegel, welcher der amerikanischen Kultur entgegengehalten wird. Thanatos in Chrom, schwarzem Leder und berstenden Jeans."